Landnahme
bin heute hier, morgen da. Mich besuchen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Vielleicht kommst du mal in eine Stadt, wo ich auftrete.«
»Ja, unbedingt. Schreib mir, wenn du mal in der Nähe von Guldenberg bist.«
Sie schüttelte den Kopf: »Nein, Kathi, ich schreib nicht. Ich schreibe keine Briefe, nie. Vielleicht komme ich wieder, um nach den Großeltern zu sehen, vielleicht sehen wir unszufällig irgendwo. Das ist besser als schreiben. Und viel aufregender.«
Sie umarmte und küsste mich zum Abschied, und das wars dann. Sie erschien nie wieder in Guldenberg, auch zur Beerdigung ihrer Großeltern kam sie nicht, ich hatte mir extra freigenommen, als ihr Großvater beerdigt wurde, und bin auf den Friedhof gegangen, doch sie war nicht da. Eine Schallplatte von ihr habe ich nie zu Gesicht bekommen, und in den Zeitschriften war von ihr kein einziges Bild zu sehen, obwohl ich mir alle durchsah, die wir im Haus der Jugend abonniert hatten. Vielleicht hatte sie das Land verlassen und war in Westdeutschland oder irgendwo im Ausland. Sie war die beste Freundin, die ich je hatte, auch wenn sie nur einen Monat bei uns war und obwohl sie sechs Jahre älter als ich war. Babsy hätte ich gern lebenslang als Freundin gehabt. Oder als große Schwester, denn Rieke war zwar die Ältere, aber eine große Schwester war sie eigentlich nie, eher ein kleines Dummchen, für das ich zu sorgen hatte.
Nachdem Babsy verschwunden war, tauchte Bernhard wieder bei Rieke auf. Er kam am Freitagabend, einen Tag, nachdem Babsy verschwunden war, direkt von der Arbeit zum Haus der Witwe und klopfte an unsere Zimmertür. Als er den Kopf ins Zimmer steckte, schrie Rieke hysterisch auf, sie will ihn nicht sehen und er soll machen, dass er verschwindet. Er stand eine Viertelstunde in der offenen Tür, traute sich nicht einzutreten und redete auf Rieke ein. Er sagte, Babsy hat ihn verführt, und er versteht sich selbst nicht, und sie soll ihm diese riesengroße Dummheit verzeihen, er ist ein für alle Mal davon geheilt. Rieke saß mit hochrotem Kopf auf dem Stuhl am Fenster und tat, als schaue sie hinaus, und jede Minute wiederholte sie nur, er soll verschwinden. Ich saß auf dem Bett, nähte Pailletten auf meine rote Bluse und tat, als sei ich gar nicht vorhanden. Als ich die Schere holen musste und an Bernhard vorbeiging, zwinkerte ich ihm zu und streichelte im Vorrübergehenseine Nasenspitze. Er haute ärgerlich nach meiner Hand, und ich warf ihm einen Luftkuss zu. Als er ging und die Haustür ins Schloss fiel, sagte ich Rieke, wenn sie ihn jetzt gehen lässt, wird er nie wieder zurückkommen, denn Bernhard ist ein Dickschädel erster Ordnung. Sie wollte etwas erwidern, doch kaum hatte sie den Mund aufgemacht, fiel ihr wohl auf, dass ich Recht haben könnte. Jedenfalls riss sie das Fenster auf und rief ihn zurück. Bernhard war eine Sekunde später in unserem Zimmer, und Rieke bat mich, sie allein zu lassen. Eine Stunde später kam Rieke in die Kammer hoch, in der ich auf dem Bett lag, und fragte, ob ich diese Nacht hier oben bleiben kann.
»Klar«, sagte ich, »wenn es der Liebe hilft.«
»Wir haben uns ausgesprochen und versöhnt. Und ich will, dass er heute bei mir bleibt.«
»Das geht ja fix, Rieke. Und nun gib deinem Herzen einen Stoß. So schlimm ist das erste Mal gar nicht.«
»Heißt das, du hast schon ...?«
»Klar.«
»Mit Manfred?«
»Mit dem auch.«
Die Arme bekam den Mund gar nicht mehr zu. Als sie ging, rief ich ihr hinterher: »Und grüß deinen Bernhard von mir. Du kannst ihm ja erzählen, wem er das Röschenpflücken verdankt.«
Seit diesem Tag waren die beiden wieder zusammen, und Rieke kam auf den Geschmack, jedenfalls blieb sie über Nacht häufiger weg als früher, und wenn Bernhard in unserem Zimmer übernachtete, musste ich in der Kammer schlafen.
Nach der Lehre sagte ich dem alten Kossatz Lebewohl. Ich wollte nicht mein Leben lang winzige Pflanzen auseinander puzzeln und einsetzen und mich mit alten Frauen über Grabkränze herumstreiten. Herr Leberecht hatte mir angeboten, den Jugendclub in der Altmarkstraße zu übernehmen,der sich Haus der Jugend nannte, obwohl er nur aus ein paar Räumen über einem Schuhgeschäft bestand, ich bekam von der Stadt ein besseres Gehalt und hatte mit jungen Leuten zu tun, die nicht diesen penetranten Geruch von Alter und Armut verströmten wie die Leutchen, die in die Gärtnerei kamen, um stundenlang nach einem Grünzeug für eine Grabstelle zu suchen. Kossatz hat es bedauert, dass
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