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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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hinter seinem Rücken. Ich glaube nicht, dass es je einer gewagt hatte, ihn mit diesem Namen anzusprechen.

Marion Demutz
    Es wird Frühjahr. Heute morgen habe ich das Gesicht in die Sonne gehalten, sie wärmt bereits. An den Wegrändern liegen verschmutzte Schneereste, zusammengefegte, verkrustete Randstreifen, die so verharscht und festgetreten sind, dass der Fuß keinen Abdruck hinterlässt. Die Bäume am Paradeplatz haben bereits zentimetergroße Knospen, und in den Vorgärten blüht es weiß und blau, späte Schneeglöckchen und wilde Märzveilchen. Am Wochenende will ich einen langen Waldspaziergang machen, um mir ein paar Zweige zu holen, die in der Vase bis Ostern aufblühen können.
    Auf das Frühjahr habe ich dieses Jahr wie noch nie gewartet. Im letzten Oktober entdeckte ich am rechten Oberarm drei kleine Knoten. Mein Arzt überwies mich gleich in das Krankenhaus, und dort hat man mir Proben entnommen. Es sei alles gutartig, wurde mir schließlich mitgeteilt, aber in den Wochen, in denen ich auf den Bescheid wartete, habe ich auf eine ganz bestimmte Art mit dem Leben abgeschlossen. Ich habe die Wohnung gründlich aufgeräumt. Alle Schubläden bin ich durchgegangen und die beiden Schränke, ich habe die gesamte Wäsche und meine Kleidung durchgesehen und viel weggeworfen. Auch die Küche habe ich bis ins Letzte ausgemistet und die Speisekammer und den Kühlschrank, und ich habe weggeworfen, was ich nicht mehr brauchte und voraussichtlich in den nächsten Wochen nicht vermissen würde. Einiges von dem, was in den Müll kam, habe ich eigentlich nie benötigt, und ich kann mir gar nicht erklären, warum ich es mir irgendwann einmal gekauft hatte. Ich fuhrwerkte durch die Wohnung wie vor einem Umzug, und ein großer Umzug hätte es ja für mich werden können.
    Bei Lichte betrachtet, habe ich zu Susanne gesagt, benötigt man sehr wenig, jedenfalls bei dem Licht, das einem drei kirschkerngroße Knoten aufstecken. Irgendwann, dachte ich bei mir, wirst du nicht mehr dazu in der Lage sein, alles in deiner Wohnung durchzugehen. Dann werden Katja oder wildfremde Leute kommen und deine Wohnung auflösen und ausräumen. Es wäre mir unangenehm, wenn sie dann schlecht über mich reden, wenn sie sich darüber amüsieren, was es alles in meiner kleinen Wohnung zu entdecken gibt, auch wenn ich hilflos und vielleicht ohne Bewusstsein in einem Krankenhaus liege oder bereits unter der Erde. Wenigstens sollte alles sauber bei mir sein, sagte ich zu Susanne, da soll man mir nichts nachreden können.
    Und nun ist alles geordnet, und ich habe plötzlich wieder viel Platz. Ich hatte gedacht, ich werde meine Wohnung für immer verlassen und sie anderen übergeben müssen, doch nun bin ich noch einmal zurückgekehrt. Zurückgekehrt für eine kleine Zeit, denn damit muss ich mich abfinden. Ein Leben lang hatte ich eine Unendlichkeit vor mir, eine Vielzahl von Jahren, eine scheinbar unbegrenzte Zeit. Das ist vorbei. Seit dem letzten Herbst weiß ich, dass ich nur noch einen Lebensrest habe, wenige Jahre, vielleicht zehn, vielleicht sehr viel weniger. Das ist nun mal so. Ich werde dieses Frühjahr erleben und vielleicht ein zweites, sicher nicht mehr sehr viele. Meine Zeit ist geschrumpft, sie ist ein kleiner Schneestreifen in der Sonne, langsam und unaufhörlich vergehend. Vielleicht müsste ich bereits die Tage zählen, die mir verbleiben, aber ich bin ruhig und glücklich. Jetzt endlich ist alle Unruhe aus meinem Leben geschwunden, und ich genieße jeden Tag. Noch nie in meinem Leben habe ich das ankommende Frühjahr so intensiv gespürt und geschmeckt. Jeder Tag ist eine Freude, und ich genieße es sogar zu atmen. Alles, was ich früher kaum beachtete, ist nun für mich ein großes Vergnügen geworden, und ich kann nur den Kopf über mich schütteln, dass ich so alt werdenmusste, um zu verstehen, was es heißt zu leben. Früher war alles Mögliche für mich wichtig, und ich war immerzu besorgt um das, was die Zukunft bringen würde. Nun habe ich keine Zukunft mehr, jedenfalls keine nennenswerte, und nun genieße ich endlich mein Leben und bin vergnügt, wie ich es nie zuvor im Leben war. Nun bin ich ein glückliches, närrisches, altes Weib. Ich habe meine Zeit mit allen möglichen Verrichtungen und Vorkehrungen vertan, so besorgt um alle möglichen Dummheiten, dass ich darüber fast vergessen hätte, auch zu leben. Seit ich das große Reinemachen in meiner Wohnung veranstaltet habe, sind die unsinnigen Ängste verschwunden, die

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