Landnahme
Klasse.
Ich kann nicht sagen, dass ich unheimlich verliebt in Bernhard gewesen bin, dazu sah er einfach nicht gut genug aus. Er war kräftig und hatte Muskeln, und keiner kam gegen ihn an, das gefiel mir, er war, obwohl er zwei Jahre älter als alle anderen war, der kleinste Junge in der Klasse. Ich war genau neun Zentimeter größer als er, und als wir zusammen gingen, machten die anderen Mädchen hämische Bemerkungen über den Größenunterschied und zerrissen sich hinter unserm Rücken das Maul. Mir machte das nichts aus oder nur wenig. Geärgert habe ich mich wegen der dummen Sprüche, die ich zu hören bekam und über die die anderen Mädchen lachten. Mir fiel keine Entgegnung ein, jedenfalls nicht sofort, sondern immer erst Stundenspäter, doch irgendwie hat uns das alles noch enger zusammengebracht, die Gemeinheiten der Mädchen und der Spott über den Sitzenbleiber, der mit mir gehe, weil ich wie er jedes Jahr knapp am Hängenbleiben vorbeischramme.
Anfangs redete Bernhard mit keinem in der Klasse. Auf dem Schulhof stand er mit anderen Schülern zusammen, die nicht in meine Klasse gingen und heimlich Zigaretten rauchten. Auch mit denen sprach er wenig. Wenn er etwas sagte, hörten ihm alle zu und nickten, als ob sie einverstanden wären. Sie behandelten ihn achtungsvoll. In der Klasse sprach er mit keinem und war mit keinem befreundet. Er schrieb auch nie kurz vor Beginn des Unterrichts die Hausaufgaben ab, sondern ließ sich stattdessen vom Lehrer runterputzen, wenn er nichts vorzuweisen hatte. Er stand dann neben der Bank, sah gleichmütig auf seine Schuhe und schwieg zu allen Fragen. Und wenn ein Lehrer einen Witz über ihn machte, drehte er sich für einen Moment zu uns um und warf rasch einen Blick über alle. Wir wussten Bescheid und lachten über keinen dieser Lehrerwitze, die auf seine Kosten gingen, selbst wenn er komisch und zutreffend war. Wir wussten, Bernhard würde demjenigen, der gelacht oder gegrinst hätte, in der Pause mit einer einzigen Bewegung einen blauen Fleck verpassen, der ihn tagelang daran erinnert hätte.
Ich weiß nicht, was Bernhard an mir gefiel. Vielleicht hatten die Mädchen Recht, und es war bloß der Umstand, dass ich mich in der gleichen hoffnungslosen Lage wie er befand. Ich war zwar kein Umsiedlerkind, dem Unterricht konnte ich jedoch genauso wenig wie Bernhard folgen, und wenn uns unsere Arbeiten zurückgegeben wurden, hatten wir zwei immer die gleiche Note, und die war nicht eben berauschend. Wir sahen uns dann kurz an, für eine winzige Sekunde, keiner sagte etwas, keiner verzog eine Miene, während der Lehrer die üblichen Ermahnungen und Belehrungen vom Stapel ließ und die anderen sich mit ihren guten Zensurenbrüsteten. Vielleicht waren es diese Sekunden, die uns einander so nahe brachten, dass Bernhard eines Tages, wir waren beide in die achte Klasse versetzt worden, nach dem Unterricht zu mir sagte: »Komm, gehen wir zum Fluss. Oder musst du gleich nach Hause?«
Ich war völlig perplex. Bernhard hatte mit mir nie gesprochen, ein ganzes Jahr nicht, und irgendwie hatte ich mich damit abgefunden, während der Schulstunden nie mit meinem Tischnachbarn zu flüstern, ihm weder etwas zuzustecken noch ihn nach einer Lösung zu fragen. Und nun, nachdem wir schon ein Schuljahr hindurch zusammen auf einer Bank gesessen hatten, lud er mich plötzlich zu einem Spaziergang ein. Ich war so verblüfft, dass ich nur nicken konnte und wahrscheinlich knallrot wurde. Und erst, nachdem ich mich wieder gefasst hatte, sagte ich hastig: »Nein, ich muss nicht nach Hause. Ich wollte ohnehin zur Mulde gehen.«
Wir liefen schweigend nebeneinander her. Als wir durch die Molkengasse kamen, schlug Bernhard vor, unsere Schultaschen in der Werkstatt seines Vaters abzustellen. Ich gab ihm meinen Ranzen, und er ging mit ihm und seinem komischen, selbstgeschneiderten Schulbeutel durch die Toreinfahrt hinein. Es dauerte einige Minuten, ehe er wieder herauskam. Er sagte, sein Vater habe ihn nicht gehen lassen wollen, er solle ihm in der Werkstatt helfen, und er habe versprechen müssen, bald zurück zu sein.
»Du musst ihm viel helfen?«
Bernhard nickte.
»Es ist blöd mit einem Arm, besonders wenn man Tischler ist und zwei Hände braucht«, sagte ich, als wir über den Anger liefen.
»In Guldenberg ist es auch blöd, wenn man zwei Arme hat«, sagte Bernhard finster. Ich lachte und sagte, dass er Recht habe und ich in dieser Stadt die Schule und danach die Lehre machen werde, um dann in
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