Landnahme
mich früher nächtelang wachhalten konnten. Jetzt fühle ich mich endlich wie ein junges Mädchen, leicht, glücklich, unbeschwert, und ich könnte den ganzen Tag über singen, und das tue ich auch, denn heute bin ich viel glücklicher als damals, als ich noch ein naives, umschwärmtes Mädchen war.
In drei Jahren werde ich sechzig, ich glaube, das sieht man mir nicht an, jetzt, wo ich wieder ganz schlank bin und ein Gewicht habe, das ich mit achtzehn, neunzehn hatte. Das ist das Schöne an dieser Krankheit, sie hat den Geruch des Todes, aber sie macht schlank. Um die Nase herum bin ich ein bisschen spitz, mit meiner Nase war ich allerdings nie zufrieden. Als Kind fand ich sie stinkhässlich, eine richtige Knolle. Ich träumte immer von einer schmalen Nase, möglichst mit einem kleinen Höcker, der sie interessant macht. Wichtiger war für mich, dass sie schmal ist und dass man die Nasenlöcher nicht sieht. Damals glaubte ich, ich hätte die hässlichste Nase der Welt, dafür konnte ich nichts, denn Mutter hatte gleichfalls so eine hässliche Gurke im Gesicht und wohl nie im Leben gehört, dass einer etwas von einem süßen Näschen zu ihr sagte. Mit meiner Figur war ich zufrieden, sehr zufrieden. Ich hatte keinen dicken Hintern und eine gute Taille, mit meiner Brust konnte ich mich sehen lassen und mit meinen Beinen sowieso. Nur die Nasewar zum Abschneiden. Ich stand stundenlang vor dem Spiegel, und was ich auch ausprobierte und womit immer ich sie vollschmierte, es half alles nichts. Sie wurde nicht kleiner oder schmaler, wenn ich sie bearbeitete, sondern lediglich knallrot, als hätte meine Freundin Caroline oder Vater daran gezogen.
Wenn ich sage, ich war mit meiner Nase nie zufrieden, so heißt das nicht, dass sie etwa hässlicher war als die der anderen Mädchen in der Schule und später in der Berufsschule. Nein, verglichen mit diesen Hühnern hatte ich eine Nase wie Königin Kleopatra, von der, keiner weiß, warum, eine Gipsbüste im Schaufenster des Friseursalons stand, in dem ich meine Ausbildung machte.
In der achten Klasse nannten mich alle Mädchen Simone, weil ich die gleiche Frisur wie Simone Signoret in dem Film »Thérèse Raquin« hatte. Ich hatte mir den Film dreimal angesehen, und ich hätte ihn mir wegen der Signoret sogar viel öfter angeschaut, aber alle Filme wurden immer nur an drei Tagen in unserer Stadt gezeigt, dann wechselte das Programm. Ich war dreimal im Kino, um diesen Film zu sehen, obwohl er ab sechzehn war und ich mir extra die Stöckelschuhe meiner Mutter ohne ihr Wissen ausleihen musste, um damenhafter zu wirken und eingelassen zu werden, doch es war nicht allein die Frisur, weshalb man mich Simone rief, die gleiche Frisur unterstrich bloß die Ähnlichkeit.
Als ich später »Die Hexen von Salem« sah, in dem die Signoret eine ganz andere Frisur trug, die mir nicht gefiel und die ich mir nicht machen ließ, wurde ich trotzdem von meinen Freundinnen und Bekannten auf die Ähnlichkeit mit der Schauspielerin angesprochen.
Ich glaube, der Einzige in der Klasse, der nichts von meiner Ähnlichkeit mit der Signoret wusste, war Bernhard, weil der nie ins Kino ging und sie nie gesehen hatte. Seine Familie hatte kein Geld für Kinokarten, und ausgerechnet Bernhard war es, mit dem ich befreundet war.
Mit Bernhard ging ich drei Jahre lang, doch es war nur soso, nichts Richtiges. So ein bisschen küssen und anfassen, nichts weiter. Kurz bevor ich die Schule verließ, kam er in meine Klasse. Er war sitzen geblieben und ein ganzes Stück älter als wir, da er aus Polen kam, wo er keinen Unterricht gehabt hatte oder jedenfalls nicht den richtigen und darum bereits eine Klasse wiederholen musste, bevor er in unserer Schule landete. Die meisten Mädchen redeten abfällig über ihn, nicht nur, weil er ein Sitzenbleiber war, sondern vor allem, weil er sich maulfaul und ungesellig anstellte. Die Jungen hatten Respekt vor ihm, denn er war sehr kräftig und zögerte nie, seine Kraft einzusetzen, wenn ihn einer scheel ansah.
Eine Zeit lang saßen wir zusammen in der ersten Reihe. Unser Klassenlehrer platzierte alle Schüler nach ihren Leistungen, die besten saßen hinten, weil sie ohnehin alles wussten, und wir, die Nieten, wie er uns bezeichnete, mussten direkt vor ihm sitzen, damit er uns immer im Auge hatte. Wir konnten uns daher schon bei der Zeugnisvergabe ausrechnen, mit wem wir im nächsten Schuljahr zusammensitzen würden, es sei denn, ein Neuer oder ein Sitzenbleiber käme in unsere
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