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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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eine Großstadt zu gehen, nach Leipzig oder nach Berlin.
    »Ich gehe an die See«, sagte er, und nach einer Pause ergänzte er: »Nach der Schule verschwinde ich an die See. Vielleicht auf eine Insel.«
    »Als Seemann? Oder als Fischer?«
    »Weiß nicht. Das ist nicht so wichtig, was ich dort mache. Hauptsache, ich bin am Meer.«
    »Warst du schon einmal am Meer?«
    »Nein. Dafür haben wir kein Geld.«
    »Wir auch nicht. Bei uns heißt es immer: sparen, sparen, sparen. Sogar beim Wasser wird bei uns gespart. Baden ist einmal in der Woche, und dann heißt es: ein Wasser, zwei Mann. Ich wechsle mich mit Katja ab, meiner kleinen Schwester, wenn ich erst nach ihr in die Wanne komme, ist das schon eine richtige Brühe, dreckig und seifig und arschkalt.«
    »Wir haben keine Badewanne. Nur so einen kleinen Holzzuber, in dem man kaum stehen, geschweige denn sitzen kann.«
    »Keine Badewanne? Nee, so möchte ich nicht leben. In der Badewanne sitzen, das ist unglaublich schön. Wenn ich zuerst drankomme, sitze ich im warmen Wasser und träume, und da kann noch so lange gegen die Tür gepocht werden. Bevor ich nicht vor Kälte klappere, bekommt man mich da nicht raus. Katja sitzt ja auch stundenlang drin, wenn sie vor mir dran ist.«
    »Ja, das muss toll sein. An der See werde ich eine Badewanne haben. Und ein richtiges Badezimmer, mit allem, was dazu gehört.«
    »Und wenn du mit dem Baden fertig bist, gehst du ins Meer und kannst nochmal baden.«
    »Ja. Genau. Mach ich.«
    »Gehst du allein? Ich meine, wirst du allein am Meer wohnen?«
    »Ich weiß nicht. Allein oder mit ...« Er verstummte, sah mich an und fügte hinzu: »Das werden wir sehen.«
    »Ein großes Badezimmer werde ich später auch haben. Das ist für mich wichtiger als Küche und Schlafzimmer, kann ich dir sagen. Eine Badewanne und Kacheln und ein großer Spiegel. Und warm muss es sein. An den Kohlen wird bei mir nicht gespart. Und am Wasser auch nicht, das kann ich dir sagen.«
    Bernhard nickte. Wir stiegen die Uferböschung an der Brücke hinunter und setzten uns auf einen der umgefallenen Stämme der Weiden, die hier den Fluss entlang standen und deren Zweige ins Wasser reichten.
    »Ich bin jedenfalls heilfroh, wenn ich die Schule hinter mir habe«, sagte ich, als wir in das Wasser starrten und den darin treibenden Dreck und die Holzstücke beobachteten.
    »Ja, mein Fall ist Schule auch nicht. Ich bin mehr für das Handfeste. Und arbeiten kann ich, da stecke ich alle in den Sack, alle Schüler und alle Lehrer. Ich möchte mal mit einem der Lehrer um die Wette arbeiten. Ich kann dir sagen, wenn es darum geht, Säcke zu schleppen oder einen Baum zu fällen oder einen Hund abzurichten oder was immer du willst, da würden alle Lehrer mit mir nicht mithalten können. Da möchte ich den sehen, der es mit mir aufnimmt.«
    »Das glaube ich dir. Kraft hast du. Wie ein Bulle,« erwiderte ich und lachte laut auf: »Bernhard, der Bulle.«
    Bernhard grinste geschmeichelt. Dann saßen wir wieder stumm nebeneinander. Bernhard träumte vielleicht von seinem Meer, und ich überlegte, warum er mich zu einem Spaziergang eingeladen hatte. Ich wusste nicht, ob das so eine Laune von ihm war und so bedeutungslos, wie für ihn offenbar alles in der Klasse. War es morgen vergessen, und er würde mich weiter so behandeln wie bisher und einfach nicht beachten? Oder hatte er mich eingeladen, weil ich für ihn irgendetwas bedeutete? Von Verliebtsein wollte ich nicht reden, nicht einmal daran denken. Aber warum sollte er sich sonst mit mir hierher setzen und schweigend ins Wasser starren?
    Ich hatte bemerkt, dass er mich im Unterricht manchmal verstohlen ansah, das machten fast alle Jungen in der Klasse, weil ich das einzige Mädchen war, das schon eine richtige Brust hatte. Wenn ich die gelbe Bluse mit dem Spitzeneinsatz anzog, dann konnte ich darauf wetten, dass alle Jungs auf meine Brust starrten. Und beim Sport sowieso. Den Sportunterricht hatten wir gemeinsam mit der Parallelklasse. Herr Stieglitz hatte die Jungen aus beiden Klassen, und die Mädchen bekamen bei Frau Gertz ihren Unterricht. Wenn ich an einem Gerät vorturnen musste und die Jungen in der Nähe standen, fielen ihnen fast die Augen aus dem Kopf, so wie sie dann auf mich starrten. Auch Bernhard sah mir zu, er sagte nie etwas, während die anderen Jungen anzügliche und freche Bemerkungen machten, über die ich lachte. Bernhard sah mich stumm an, und wenn ich ihn dabei ertappte, drehte er den Kopf weg, als sei er

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