Landnahme
überhaupt nicht an mir interessiert. Warum also hatte er mich zum Fluss mitgenommen?, habe ich damals Susanne gefragt.
»Ich glaube, ich muss gehen«, sagte er schließlich, »mein Vater wartet auf mich.«
Er blieb sitzen und sah mir in die Augen, mindestens eine Minute lang. Ich dachte, nun würde er mich küssen, und hatte Angst, dass er mir wehtun würde. Er stand auf, wartete, bis ich mein Kleid gesäubert hatte, und dann gingen wir nebeneinander in die Molkengasse zurück. Ich wartete vor dem Eingang, bis er wieder herauskam und mir meinen Schulranzen gab.
»Es war schön am Fluss. Ich meine, mit dir.«
Und dann gab er mir zum Abschied die Hand und sagte: »Also, bis morgen.«
Er ließ mich ratlos zurück. Ich wusste nicht, ob ich nun seine Freundin war. Geküsst hatte er mich nicht, und anfassen und streicheln, das hatte er auch nicht gemacht. Im Grunde hat er gar nichts gemacht, bloß stumm neben mir gesessen. Vielleicht, dachte ich damals, ist so die Liebe, undman hat völlig falsche Vorstellungen von ihr. Vielleicht, dachte ich, ist im Leben alles ganz anders als im Kino, jedenfalls sagte Mutter das, und so, wie sie es sagte, musste man es ihr glauben.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Ich hatte Angst davor, am nächsten Tag irgendeine Dummheit zu machen und lächerlich zu wirken. Ich nahm mir vor, nichts zu sagen und zu warten, bis er mich ansprach. Und wenn er nichts sagen würde, so wie in dem ganzen Jahr, das er in meiner Klasse und auf meiner Bank saß, dann würde ich die Letzte sein, die nur einen Pieps äußerte. Dann würde ich diesen Spaziergang vergessen, und er könnte mir den Buckel runterrutschen.
Als ich das Klassenzimmer betrat, ich muss schrecklich ausgesehen haben, unausgeschlafen und aufgeregt, wie ich war, saß Bernhard bereits auf seinem Platz.
»Na dann«, sagte er, bei ihm wirkte es wie eine überaus herzliche Begrüßung. Er stand sogar auf, um mir meine Schultasche abzunehmen und sie unter der Bank zu verstauen. Karla hatte es beobachtet und es gleich ihrer Freundin erzählt, und so galt ich von dieser Minute an für die ganze Klasse als Bernhards Freundin.
Wir gingen drei Jahre zusammen, das letzte Schuljahr und die ersten beiden Jahre unserer Lehrzeit. Ich lernte Friseuse, und Bernhard wurde Tischler. Er lernte bei Mostler, dem Tischler in Spora, da sein Vater keine Lehrlinge ausbilden durfte, dafür fehlte ihm eine Bescheinigung, und er bekam in Guldenberg keinen Ersatz dafür, weil die anderen Tischler es nicht wollten, wie mir Bernhards Vater sagte. Eine fehlende Bescheinigung, sagte er zu mir, das sei genauso schlimm wie ein fehlender Arm, und davon verstehe er etwas.
Bernhard und ich kamen gut miteinander zurecht, und ich glaube, er liebte mich wirklich. Und für mich war er der erste Junge, der sich wirklich für mich interessierte undnicht nur auf meine Brust starren und sie anfassen wollte. Mehr war da nicht, und ich kann nicht sagen, dass ich in ihn verliebt gewesen war. Es schmeichelte mir, von ihm verehrt zu werden, doch großes Herzklopfen bekam ich in seiner Nähe nicht. Das lernte ich erst kennen, als ich schon zwanzig war und Butzer traf, den Pianisten der Kettlers. Den hatte ich nach einem Konzert in Halle getroffen und war drei Monate mit ihm zusammen. Bei Butzer haben mir wirklich die Knie gezittert, wenn ich ihn sah, und wenn er mich anfasste, wurde mir überall ganz heiß.
Bernhard war nur ein Freund. Ein sehr verlässlicher Freund, auf dessen Wort man bauen konnte. Er hat nie viel geredet, wenn er einmal etwas gesagt hatte, dann blieb er dabei, gleichgültig, was danach passierte und selbst wenn es ihm schadete. Wir waren so lange zusammen, dass alle meinten, wir würden einmal heiraten. Selbst meine Mutter fand sich irgendwann mit dem Gedanken ab, obwohl sie von einer besseren Partie für mich geträumt hatte. Bernhard und ich redeten nie darüber. Er wohl, weil es für ihn gleichfalls beschlossene Sache war und er nie viele Worte machte und schon gar nicht über Dinge, die für ihn klar waren. Und ich vermied es, darüber nachzudenken, da ich ihn gern hatte und gern mit ihm zusammen war, aber von einer völlig anderen Hochzeit träumte, von einem Mann, der mich aus allem herausholen und mit dem ich ein wunderbares Leben führen würde. Heiraten war für mich etwas Endgültiges und Märchenhaftes. Natürlich erwartete ich nicht einen Prinzen, ich war schließlich kein Kind mehr, doch er sollte etwas Fantastisches haben, eine Figur aus einem
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