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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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hatte es unser Klassenlehrer bemerkt und setzte uns auseinander, was mir recht war, denn ich wurde neben Katharina gesetzt, die zwar eine tüchtige Pullertrude war, doch sie war nicht so stocksteif und schweigsam wie Bernhard, und man konnte sich während der Stunde mit ihr unterhalten.
    Wenn ich mich an die Zeit mit Bernhard erinnere, sehe ich uns beide durch die Stadt laufen, an der Mulde spazieren gehen oder im Kurpark. Bernhard geht neben mir, den Kopf hält er ein wenig gesenkt, als müsse er auf den Weg achten, er läuft schwerfällig, als schleppe er eine große Last mit sich, sieht nur gelegentlich zu mir und schweigt. Und ich rede und rede, schwatze daher, was mir durch den Kopf geht, und bin froh, jemanden zum Zuhören zu haben.
    Zuhören konnte er gut, und er vergaß nie etwas. Ich musste höllisch aufpassen, dass ich mir nicht selbst widersprach, denn dann hakte er ein und sagte mir, was ich ihm vor Tagen oder Wochen gesagt hatte. Über die Schule verloren wir kein Wort, das war nicht nötig, wir wussten beide, was davon zu halten ist, und zu den überheblichen Bemerkungen der Lehrer und den versteckten Sticheleien einiger Klassenkameraden war nichts zu sagen, das war eben so, und wir hatten gelernt, damit zu leben. Ich spürte, dass er mir besonders gern zuhörte, wenn ich über unsere Zukunft sprach. Ich malte ihm mein Leben aus und entwarf ihm seins, und er war meistens überrascht, was ich ihm über seine Aussichten erzählte, er nickte dann und war einverstanden.
    An Politik und Zeitungsmeldungen waren wir beide nicht interessiert. Im Unterricht wurde ab und zu über ein aktuelles Problem gesprochen, über den Weltfrieden unddie fortschrittlichen Kräfte, die mit uns verbündet waren, die meisten in der Klasse waren jedoch nicht daran interessiert, es meldeten sich immer die gleichen, Karla und Fred, deren Eltern besonders fortschrittlich waren. Wir alle vermuteten, dass Karla und Fred später einmal große politische Tiere werden, Chef von einem Betrieb oder Bürgermeister, und so sagten wir nichts zu ihrem Eifer. Alle anderen hörten sich den politischen Kram geduldig an und murmelten, wenn sie zu einer Stellungnahme aufgefordert wurden, irgendeinen erwünschten Unsinn, über den alle grinsen konnten. Bernhard und ich wurden nie gefragt, wir mussten nie eine Stellungnahme abgeben. Ich hatte einmal irgendeinen großen Unsinn gesagt, über den alle in der Klasse schallend gelacht hatten, und seitdem wurde ich nie wieder vom Lehrer aufgerufen, wenn es um Politik ging. Und Bernhard antwortete grundsätzlich nur, wenn er etwas sagen wollte, und zu solchen Sachen wollte er nie etwas sagen. Wurde er aufgerufen, obwohl er nichts sagen wollte, so stand er neben der Bank, hielt den Kopf gesenkt und schwieg einfach. Der Lehrer konnte auf ihn einreden, so lange er wollte, die ganze Stunde lang. Bernhard schwieg. Es half nichts, ihn zu bestrafen. Wenn er nachsitzen sollte, nahm er diese Ankündigung regungslos zur Kenntnis, und erteilte Strafarbeiten führte er aus oder nicht, das konnte vorher keiner wissen. Die Lehrer hatten es schließlich aufgegeben, ihn erziehen zu wollen. Sie ließen ihn einfach in der Klasse mitlaufen und verzichteten darauf, sich mit ihm auseinander zu setzen. Um sich nicht eine ganze Schulstunde mit einem einzigen, hartnäckig schweigenden Schüler abgeben zu müssen, vermieden sie jeden Konflikt mit Bernhard. Sie waren an seinem Dickschädel gescheitert. So konnten wir zwei sicher sein, nicht aufgerufen zu werden, wenn es um das politische Zeug ging und wir dann vielleicht Sachen sagen würden, über die die ganze Klasse gelacht hätte. Der Lehrer müsste sonst wieder stundenlang reden, um uns und den anderen klarzumachen,dass es völlig falsch sei, was wir geäußert hätten. Er hätte lang und breit erzählen müssen, dass alles in der Welt viel komplizierter war, als wir es uns vorstellten, und man lernen müsse, politisch zu denken, wofür der Augenschein nicht ausreiche und nicht das, was man den gesunden Menschenverstand nenne, denn mit dem Verstand einiger Menschen, und dabei sah der Lehrer immer zu Bernhard und mir, sei es nicht weit her.
    Wenn ich an die gemeinsame Schulzeit mit Bernhard zurückdenke, kann ich es mir überhaupt nicht erklären, was damals – es muss im Mai gewesen sein, denn bereits zu Pfingsten fuhr ich mit Caroline zum Müritzsee – vorgefallen war. Bernhard war nie politisch gewesen, jedenfalls hatte er weder in der Schule noch bei unseren Spaziergängen

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