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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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als Bernhard, der alles so beurteilte, wie er es haben wollte. Ich dagegen war der Ansicht, wenn irgendwer, und sei es ein Lehrer, eine bestimmte Antwort erwartet, dann gebe ich sie ihm und muss mir dabei nicht die Zunge abbeißen. Ich sage einfach, was gewünscht ist, besonders dann, wenn ich meine Ruhe haben will. Mit dem Kopf durch die Wand zugehen, das ist einfach dumm, und wer das immer wieder versucht, muss sich nicht wundern, wenn ihm schließlich der Schädel brummt. Bernhard war so einer. Mit dem Kopf durch die Wand, das war genau sein Fahrplan für das Leben, das konnte man schon damals erkennen, als er noch zur Schule ging oder mit der Lehre begann. Schlechter als ich ist er damit auch nicht gefahren, denn ich bin nicht eben allzu glücklich davongekommen, und leicht war mein Leben bestimmt nicht. Mir hätte es schon geholfen, wenn ich nicht immerzu mit dem Geld hätte rechnen müssen, ein paar Mark auf dem Konto zu haben, das hatte ich mir stets gewünscht, damals, als ich jung war, und jetzt im Alter sowieso, es hat nicht sollen sein, und irgendwie bin ich ja zurechtgekommen, bisher jedenfalls.
    Mit Bernhard war nicht zu reden. Wenn er von etwas überzeugt war, dann konnte ihn der Klügste nicht vom Gegenteil überzeugen, und auch kein Stärkerer. Er nahm die Bestrafung hin, ganz egal, ob es eine schlechte Note war oder eine andere Buße, und man konnte ihm nie ansehen, ob er sich darüber ärgerte. Man wusste nicht einmal, ob es ihm etwas ausmachte. Umstimmen jedenfalls ließ er sich von keinem. Die einzige Ausnahme war ich. Ich konnte ihn manchmal überreden, weil ich wusste, wie man es bei ihm anfangen muss.
    Anfangs war alles normal. Wir gingen zusammen, und in der Klasse redeten sie über uns. Manche Mädchen wollten von mir wissen, wie gut er küssen kann und wie weit er bei mir gehen darf, was ich ihm erlaube. Ich sagte den dummen Hühnern irgendetwas, damit sie den Mund hielten und etwas zum Staunen hatten. In Wahrheit gingen wir ein halbes Jahr miteinander, ohne dass er den Versuch machte, mich zu küssen. Ich hatte mir genau überlegt, wie ich reagieren würde, falls er es versuchen sollte. Ich hatte einen genauen Plan, denn so ohne weiteres wollte ich es ihm nicht erlauben. Da er keine Anstalten machte, mich zu küssen,konnte ich mir meinen schönen Plan sonstwohin stecken. Irgendwann wurde ich unruhig. Alle Mädchen in meiner Klasse, selbst diejenigen ohne einen festen Freund, hatten sich schon geküsst, nur ich nicht. Wenn ich etwas klüger gewesen wäre, hätte ich vermutet, dass er vom anderen Ufer sei, wie es so heißt, dass er schwul ist, davon hatte ich damals keine Ahnung. Ich überlegte, ob ich für ihn vielleicht so etwas wie ein Freund sei, ein guter Kumpel und dass ich ihm als Mädchen nichts bedeute. Und dafür war ich mir eigentlich zu schade. Jedenfalls war alles, was ich mir vorgenommen hatte, falls er mich küssen wollte, für die Katz. Alles, was ich mir ausführlich ausgedacht und zurechtgelegt hatte, war nutzlos, weil ich es war, die ihn küssen musste, ich meine, richtig küssen. Es war an einem Montag auf dem Waldfriedhof. Wir saßen auf einer Eisenkette, die gar keine Kette war, sondern starr und unbeweglich, ich erzählte und Bernhard hörte mir zu. Und als er mich einmal anstarrte und eben wieder sein »Wirklich?« fragen wollte, beugte ich mich rasch zu ihm und küsste ihn auf die Lippen.
    Das ging ganz schnell, und gespürt habe ich nichts. Ich weiß noch, dass Bernhard strahlte. Und wie er strahlte! Sein Gesicht leuchtete richtig, wie ich es bei ihm nie gesehen hatte. Mit dem winzigen Kuss muss ich ihn unendlich glücklich gemacht haben. Er war plötzlich der reinste Sonnenstrahl, so etwas habe ich nie wieder erlebt, nicht mit Bernhard, nicht mit den Jungen nach ihm, und mit Butzer sowieso nicht, der tat immer so, als interessiere es ihn nicht, ob wir uns küssen oder richtige Liebe machen. Bei Butzer war ich es wohl, die so strahlte.
    Bernhard lächelte glückselig vor sich hin und sagte und tat nichts. Ich weiß noch, dass ich dachte, jetzt fehlte noch, dass er die Augen schließt und umkippt, dann haben wir den Salat. Das tat er zwar nicht, er lächelte nur. Ich glaubte, nun müsse er mich seinerseits küssen, denn schließlich warer der Junge, und ich wollte mich nicht zum Affen gemacht haben. Er sollte mich zum Ausgleich küssen, damit nicht nur ich es war, die geküsst hatte und er das herumerzählen könnte, obwohl ich wusste, dass Bernhard das nie tun

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