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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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würde. Aber er küsste mich nicht, und auf dem Heimweg fasste er lediglich nach meiner Hand und hielt sie, bis die Häuser zu sehen waren. Das war alles damals, und daheim habe ich lange darüber nachgedacht, wieso und warum ich ihn geküsst habe und er mich nicht. Warum ich es getan hatte, dafür gab es mehrere Gründe, die alle glasklar waren, jedenfalls für mich, sein Verhalten dagegen konnte ich mir nicht erklären, denn das war etwas eigenartig. Andere Jungen hätten sich eine solche Gelegenheit kaum entgehen lassen und womöglich sogar nach meiner Brust gefasst, auf die sie sowieso dauernd schielten.
    Sehr viel später habe ich ihn einmal gefragt. Erst tat er so, als wüsste er nicht, wovon ich rede, dann hat er mein Ohr gestreichelt, so wie ich es liebe, und gesagt: »Es war schön. So schön, da wollte ich nichts weiter.«
    Das war seine ganze Erklärung, die mir nicht viel sagte, so war er eben. Später hat er mich schon geküsst, da war er ein richtiger Weltmeister. Küssen wollte er immerfort. So, wie er mir früher zugehört hatte, wollte er nun immerzu küssen, was mich ziemlich nervte, denn bei ihm war es eine einzige Schmatzerei, bei der ich nichts empfand, nur seine nassen Lippen und seine Zunge, die mir unangenehm war. Ich habe ihm immer wieder gesagt, er möge das lassen, das war wie in den Wind gesprochen. Ich weiß noch heute, wie ich ununterbrochen »Lass das endlich sein« zu ihm sagte. Ich weiß das so genau, weil mich Jahre später Butzer mit den gleichen Worten zurückstieß, wenn ich ihn zu küssen versuchte. So ist das im Leben.
    Meine Mutter drängte mich, Bernhard einzuladen, weil sie ihn kennen lernen wollte, er jedoch fand immer einen Vorwand, nicht zu uns zu kommen. Mutter glaubte, er seizu schüchtern oder schäme sich, weil er aus einer armen Familie komme und nicht so gut angezogen sei wie wir. Das könne sein, erwiderte ich, innerlich musste ich lachen. Schüchtern war Bernhard ganz bestimmt nicht, und seine Kleidung war für ihn kein Problem. Wenn in der Klasse irgendjemand etwas über seine alten Hosen sagte oder die unmögliche gestrickte Mütze, lächelte er ganz kalt und abfällig und wurde nicht einmal wütend. Die Wahrheit war, dass Bernhard uns verachtete, uns, die wir hier in der Stadt wohnten und schon immer hier gelebt hatten. Er war ein Umsiedler, und die waren in der Stadt nicht beliebt, und darum verachtete er alle. Deswegen wollte er sich nicht bei meinen Eltern an den Kaffeetisch setzen, obwohl er dort einen Kuchen bekommen hätte, wie er ihn zu Hause sicher nicht bekam, mit guter Butter und mit echter Schlagsahne. Insgesamt war er in den drei Jahren, die wir zusammen waren, fünf-, sechsmal bei uns zu Hause, wenn meine Eltern da waren, ansonsten kam er zu mir, wenn mein Vater und meine Mutter verreist waren.
    Bei seinen Besuchen bei mir ist nichts vorgefallen, was ich nicht wollte oder verantworten konnte. Mein Zimmer habe ich ihm gezeigt, er hat es sich lange angeschaut, wie es seine Art war, und dann haben wir uns ins Wohnzimmer gesetzt oder in der Küche etwas gekocht, meistens Spaghetti, die er liebend gern aß, mit ein bisschen Fett oder irgendeiner Soße, die ich zusammenrührte. Frech und zudringlich wurde er nie, auch dann nicht, als mir einmal ein Wassertopf aus der Hand rutschte und ich, nachdem ich die Küche aufgewischt hatte, mein nasses Kleid ausziehen musste, um etwas Trocknes anzuziehen. Ich hatte die Tür von meinem Zimmer einen Spalt offen gelassen, um mich weiter mit ihm zu unterhalten, und zog mich dort bis auf meine Unterhose aus. Er machte keinen Versuch, in das Zimmer zu kommen, und probierte nicht einmal, durch den Türschlitz zu spähen, was mich wunderte.
    Bei seinem ersten Besuch zeigte ich ihm die ganze Wohnung. Im Badezimmer blieb er lange stehen, und ich musste ihn zweimal rufen, ehe er in die Küche kam. Er druckste herum, und als ich ihn aufforderte, endlich auszupacken, was ihm auf der Seele lag, sagte er verlegen: »Ich würde gern in der Wanne baden. Wenn das geht.«
    Nun war ich es, die verlegen wurde. Ich wusste, daheim hatten sie keine Wanne, das hatte er mir erzählt, und ich verstand, dass er gern einmal im warmen Wasser liegen wollte. Andererseits hieß das, er würde sich in unserer Wohnung ausziehen. Er würde völlig nackt bei mir in der Wohnung sein, während meine Eltern außer Haus waren. Mir war etwas unbehaglich bei dem Gedanken, ganz abgesehen davon, dass natürlich durch einen dummen Zufall meine Eltern früher

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