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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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je ein Wort über so was geredet. Vielleicht war das damals so ein verrückter Einfall von ihm, das wäre denkbar, denn gelegentlich machte er Sachen, bei denen alle den Kopf schüttelten, und wenn ich ihn danach fragte, sagte er: »Ich wollte es eben.«
    Meine Eltern meinten, es stecke jemand dahinter, man habe ihn aufgestachelt, und er hätte sich zu einem nützlichen Idioten machen lassen, doch das glaube ich nicht. Bernhard machte stets, was er wollte, und wenn er spürte, dass irgendjemand von ihm etwas Bestimmtes erwartete, dann machte oder sagte er garantiert das genaue Gegenteil, selbst wenn er das ursprünglich nicht vorhatte oder es ihm schadete. Schließlich war das sein eigentliches Problem an der Schule, er wusste genau, was man von ihm wollte, und dann tat er genau dieses nicht. Ich war da anders, ich wollte immer das Erwünschte und Erwartete sagen, mir fiel es nur nicht ein, und wenn ich etwas völlig anderes machte oder sagte, dann ganz bestimmt nicht, weil es meine Absicht war. Ich war nicht so mutig wie Bernhard, dem es nichts ausmachte, wenn er alle in der Klasse gegen sich aufbrachte und sogar die Lehrer reizte. Ihm war es sehr wichtig, deneigenen Kopf durchzusetzen, das habe auch ich zu spüren bekommen, und darum glaube ich nicht, dass sich Bernhard, von wem auch immer, etwas hat einreden lassen, das war einfach nicht seine Art.
    Mit mir hatte er vorher nicht gesprochen und hinterher gleichfalls nicht. Wenn er überhaupt etwas gesagt hat, dann bloß: ich wollte es eben so. Und dann brauchte ich nicht nachfragen, das konnte ich mir sparen.
    Seit unserem Spaziergang zum Fluss trafen wir uns regelmäßig. Meistens gingen wir aus der Stadt raus, zum Alaunwerk, zur Niedermühle und sehr oft auf den Waldfriedhof, oder wir liefen durch den Wald oder an der Mulde entlang. In den Kurpark gingen wir selten, dort waren immer alte Leute, die einen unverschämt neugierig anstarrten. Und auf den Markt oder den Paradeplatz, wo die meisten Jugendlichen herumstanden, gingen wir, wenn dort Rummel war oder irgendeine Vorführung, die sich jedermann ansehen wollte. Ansonsten zogen wir es vor, allein zu sein, Bernhard wollte es so. Er sagte, die anderen in der Klasse seien dumme, unreife Gören, mit denen er nichts zu tun habe wolle.
    »Alle?«, fragte ich. »Doch nicht alle.«
    Er schnaubte verächtlich durch die Nase und meinte, ich möge aufpassen, mit meinen Freundinnen und denen, die ich dafür hielt, würde ich früh genug mein blaues Wunder erleben, er kenne die Menschen. An diese Bemerkung habe ich später oft denken müssen, denn mein blaues Wunder habe ich mit allen erlebt, mit allen, denen ich vertraute und die ich liebte. Mit allen, nur nicht mit Bernhard. Er hat mich nie enttäuscht, und ich hatte, bedrängt von meinen Eltern und allen möglichen Freunden, mit ihm Schluss gemacht, bevor ich von ihm enttäuscht werden konnte. Damals war ich über seine Antwort entsetzt und fragte ihn: »Liebst du denn niemanden?«
    »Doch«, sagte er. Er schwieg ganz lange und sagte dann heiser: »Dich.«
    Ich erschrak, weil mir klar wurde, wie sehr er mich liebt und dass ich ihn eigentlich gar nicht liebe.
    »Das meine ich nicht. Ich will wissen, wen du außer mir gut leiden kannst.«
    Er dachte lange nach und sagte dann: »Meine Eltern.«
    »Das zählt nicht. Und außer deinen Eltern? Hast du denn keinen Freund? Gibt es denn keinen, mit dem du dich verstehst?«
    »Doch«, sagte er, »Tinz. Den habe ich geliebt.«
    Ich musste nicht fragen, wer Tinz ist, ich wusste Bescheid. Ich glaube, die ganze Stadt kannte die Geschichte mit Tinz. Es hieß, er habe angekündigt, den umzubringen, der seinen Hund getötet habe.
    »Das gilt nicht«, sagte ich, »Tinz war ein Hund, der zählt nicht.«
    »Jedenfalls habe ich jemanden genannt«, widersprach Bernhard, »und für mich zählt Tinz.«
    »Das ist einfach schrecklich, wenn du außer deinen Eltern nur einen Hund liebst.«
    »Ja«, sagte er, »für dich vielleicht.«
    »Ein bisschen verrückt bist du«, sagte ich, das sagte ich im Stillen, nur für mich. Bernhard konnte sehr wütend werden, wenn man so etwas sagte. Wenn man irgendwie andeutete, dass es mit seinem Verstand nicht weit her sei, wurde er richtig rabiat, auch zu mir, trotzdem war das die Wahrheit. Ich meine, ich war nicht eben eine Leuchte der Wissenschaft, und in der Schule konnten wir beide uns die Hand geben, was unsere Leistungen betraf, im praktischen Leben kam ich dafür gut zurecht, jedenfalls sehr viel besser

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