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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Abend waren wir vier Jungen, die auf dem Geländer saßen. Der weiße Opel blieb mitten auf der Brücke stehen, er verreckte direkt vor uns. Er war uns schon vorher aufgefallen, da er sich langsam der Brücke näherte und ruckartig fuhr, sein Motor machte ein paar würgende Geräusche, als schnappe er nach Luft, dann gab es eine laute Fehlzündung, und er gab seinen Geist auf. Ein älterer Mann im Anzug und mit einem Tuch um den Hals stieg aus dem Auto, ging nach vorn, öffnete die Kühlerhaube und klappte sie hoch, die Scheinwerfer des Wagens hatte er nicht ausgestellt. Er ging an den Kofferraum, holte Handschuhe heraus und zog sie sich an, dann griff er an den Motor, klopfte dagegen, schaute sich lange den Motorraum an, als suche er etwas, und schloss schließlich die Motorhaube. Er blieb unschlüssig neben dem Wagen stehen und sah sich hilflos um. Er winkte uns, und wir gingen sofort alle vier zu ihm. Er zog seine Handschuhe langsam aus und warf sie auf die Motorhaube. In der Dämmerung schien es mir, als habe er eine bronzene Haut, und ich wartete gespannt darauf, dass er den Mund öffnete und zu uns etwas sagte. Ich wollte seine Stimme hören, die gewiss etwas von dem gleichen kostbaren Schimmer seiner Haut haben müsste. Vielleicht würde er uns in einer fremden Sprache ansprechen, oder er würde mit einem Akzent sprechen, der auf ferne, verheißungsvolle Länder verwies. Doch als ich vor ihm stand, sah ich, dass seine Haut lediglich gelb war, ein ungesundes,schmutziges Gelb wie die Fingerspitzen eines Rauchers. Er fragte uns nach einer Autowerkstatt, die seinen Wagen reparieren könnte, und wir beschrieben ihm den Weg. Er öffnete die Fahrertür und schaltete die Scheinwerfer aus. Dann ging er zur hinteren Tür, holte einen weichen braunen Mantel heraus und zog ihn sich über. Zum Schluss griff er nach einem breitkrempigen Filzhut von der Farbe seines Mantels und setzte ihn auf, bevor er den Wagen verschloss. Als er in Richtung Stadt gehen wollte, sagte ich zu ihm, er solle seinen Wagen nicht auf der Brücke stehen lassen oder das Licht anschalten, denn hier sei viel Verkehr und die Brücke sehr schmal. Er blieb stehen, nickte, sah zu seinem Auto und bat uns, ihm schieben zu helfen. Er setzte sich an das Steuer und wir schoben sein Auto von der Brücke zurück auf den Grünstreifen neben dem Asphalt. Er hatte das Fenster heruntergeleiert und steckte den Kopf heraus. Ich stand hinter ihm und drückte gegen den Rahmen, dabei zog ich den kleinen Knopf an der hinteren linken Tür heraus, der sie verschloss. Der Mann bemerkte es nicht, und als er sein Auto wieder abschloss, blieb diese Tür offen. Bis zur Brücke begleiteten wir ihn. Wir setzten uns auf das Geländer, während er allein weiter in Richtung Stadt lief.
    Als ihn die Dunkelheit verschluckt hatte, sprang ich vom Geländer herunter. Bevor ich etwas sagen konnte, fragte mich Bernhard, ob wir uns den Wagen mal genauer ansehen wollen. Er grinste, und ich wusste, er hatte meine Manipulation bemerkt. Alle vier liefen wir zu dem abgestellten Auto, öffneten die beiden hinteren Türen und durchsuchten rasch den ganzen Wagen. Wir fanden Landkarten, dreckige Putztücher, eine Bonbonschachtel und eine leere Thermoskanne. Da die Kofferklappe verschlossen war, wollten wir uns schon mit den Bonbons und der Thermoskanne zufrieden geben und verschwinden, als Bernhard plötzlich die Rückenlehne eines Rücksitzes abbaute und mit dem Oberkörper hinter der Sitzbank verschwand. Es dauerte einigeSekunden, dann öffnete er die Kofferklappe von innen und kam hervor. Im Kofferraum lagen ein Ersatzreifen, ein Kunststoffkasten mit einem roten Kreuz darauf und ein kleiner schwarzer Koffer. Wir holten den Kunstlederkoffer und den Rot-Kreuz-Kasten heraus und öffneten beide. Im Koffer lagen zwei Mappen mit Papieren, zerknüllte Wäsche und Reiseutensilien. In dem Plastikkasten waren Binden und Pflaster und Tabletten. Jeder von uns schnappte sich etwas. Wir griffen alle rasch zu, damit uns keiner zuvorkomme. Ich bekam das Reisenecessaire in die Finger. Es gefiel mir, weil es aus Leder war oder aus einem Lederimitat und weil es so klein war, dass es bequem in meine Jackentasche passte. Dann verschlossen wir den Koffer und den Kasten, legten beides zurück, ordneten den Rücksitz, schlossen alle Türen des Wagens, die wir geöffnet hatten, und machten uns sofort auf den Heimweg.
    An der Auffahrt zum Heimatmuseum kam uns der alte Diesel-Lieferwagen von Schrader entgegen, dem die

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