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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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habe.«
    Dann drehte er sich um und ging in Richtung Stadt, der Hund lief neben ihm her und wandte immer wieder den Kopf zu uns um, bis ihm sein Herr mit der ledernen Leine eins überzog.
    »Das muss er bezahlen«, sagte ich zu Bernhard, »schließlich können wir es alle bezeugen. Der Kerl ist gemeingefährlich, den Hund auf einen zu hetzen.«
    »Dieser Idiot«, knurrte Bernhard und betrachtete sorgenvoll das Loch in seiner Hose, »meine Mutter wird sich freuen. Und was ist, wenn der nicht zahlt?«
    »Dann verklagst du ihn. Du hast genug Zeugen. Wir können es alle bestätigen.«
    Alle Jungen, die bei uns saßen oder standen, nickten.
    »Verklagen? Einen Polizisten? Das kostet einen Haufen Geld, und uns werden sie nicht glauben.«
    Wir blieben ein paar Minuten auf der Brücke stehen, aus Stolz und weil der Polizist ein schlechtes Gewissen hatte und sicherlich nicht noch einmal kommen würde. Als wir nach Hause gingen, sagte ich zu Bernhard, er könne gut mit Hunden umgehen, und fragte ihn, ob er nicht Angst gehabt hätte, denn ich hätte mir fast in die Hosen gemacht. Dabei legte ich ihm eine Hand auf die Schulter, und ich denke, er verstand, dass ich mich damit bedanken wollte. Er sagte, er könne mit Hunden umgehen, mit allen, und dass er vor keinem Tier Angst habe. Vor einem Hund, sagte er, müsse eigentlich keiner Angst haben, weil Hunde die körperlicheGröße anerkennen und fürchten und darum nie einen Menschen angreifen würden, wenn man sie nicht dazu aufhetzte. Wenn man sich vor ihnen fürchte, werden sie aggressiv und gefährlich, weil sie dann Rudelführer sein wollen, denn der Hund stamme vom Wolf ab und sei es gewohnt, in Rudeln zu leben, in denen es immer ein Tier gebe, das alles bestimme, das sich gegen jeden durchsetze und dem sich alle unterzuordnen hätten. Ich sagte zu ihm, mir könnten Hunde gestohlen bleiben, vielleicht würde ich mir mal einen Wachhund zulegen, einen großen, vor dem alle Respekt hätten und der mir aufs Wort folgen müsste.
    »Der Hund hätte nie zugeschnappt, wenn Barthel es ihm nicht befohlen hätte«, sagte Bernhard.
    «Ich weiß. Das hat man gesehen. Sein Köter hätte dir fast aus der Hand gefressen.«
    »Ja, mit Hunden kann ich umgehen.«
    »Sicher«, sagte ich.
    Ich nickte ihm zu, als wir uns verabschiedeten. Ich war heilfroh, dass das Vieh nicht meine Hose zerrissen hatte.
    Zwei Tage später wurde die Brücke für den gesamten Verkehr gesperrt, nicht einmal Fahrradfahrer und Fußgänger durften sie überqueren. Wer auf die andere Seite wollte, musste nun nach Grehna fahren, wo damals die Fähre in Betrieb war, die dort nach der Bombardierung des Dorfes und der Brücke eingerichtet worden war.
    Ende März ging das Hochwasser zurück, und es kamen Spezialisten von außerhalb, die den Zustand der Brücke untersuchten. Sie blieben vier Tage in der Stadt, kletterten die Brücke hoch und runter und stiegen mit Gummihosen, die ihnen bis zum Kinn reichten, in das Wasser, um die Pfeiler zu begutachten. Nachdem sie abgereist waren, blieb die Brücke weiterhin gesperrt, und nach drei Wochen stand in unserer Zeitung, dass der Bericht einer Kommission vorliege, wonach die Guldenberger Brücke nicht mehr zu retten sei und abgerissen werden müsse. Sie sei ohnehin nurnach dem Krieg als provisorische Notbrücke errichtet worden.
    Die alte Steinbrücke war in den letzten Kriegstagen von der Wehrmacht gesprengt worden, um den Einzug der Amerikaner zu verhindern, doch bereits einen Tag später, als der deutsche Truppenteil weitergezogen war, wurde die Stadt von den Einwohnern den Amerikanern überlassen, die schon am anderen Muldeufer standen. Ein Polizist, hieß es, soll mit einer weißen Fahne über die Reste der Brückenpfeiler geklettert sein, um die Stadt, in der sich kein Soldat mehr aufhielt und aus der die Stadtleitung, der Bürgermeister und zwei hauptamtliche Mitarbeiter, geflohen waren, dem amerikanischen Armeekorps zu übergeben. Mit Hilfe einer mitgeführten Pontonbrücke zogen die Amerikaner am gleichen Tag in die Stadt ein, die überfüllt war von Flüchtlingen. Die Amerikaner setzten eine neue Stadtverwaltung ein aus Leuten, die ein wenig Englisch sprachen. Den amerikanischen Offizieren war es gleichgültig, welchen Beruf die neuen Stadtväter eigentlich ausübten und was sie in der Nazizeit gemacht hatten. Die neue Stadtleitung war zwei Wochen im Amt, ganz genau nur neun Tage, denn die Amerikaner zogen Ende April davon, und fünf Tage später, am 4. Mai, zogen die

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