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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Gesundheit die sozialistische Ordnung zu schützen suchten. Alle vier Bauarbeiter hatten nicht allein die Prozesskosten zu tragen, sie mussten auch für das gestohlene Werkzeug aufkommen.
    Als ich Bernhard im September zufällig auf der Straße traf, sprach ich ihn auf den Zeitungsartikel an. Ein Grinsen lief über sein Gesicht, und er meinte: »So ein Idiot. Wie konnte er diesen Quatsch dem Gericht erzählen.«
    »Da haben wir Glück gehabt. Stell dir vor, der hätte beim Prozess unsere Namen nennen können!«
    »Wieso? Hast du einen Polizisten stehlen sehen? Hast du irgendjemandem so etwas erzählt? Ich nicht. Ich hätte alles abstreiten müssen, und das wäre dann sogar die Wahrheit.«
    »Trotzdem, ein armes Schwein. Wenn er uns in die Finger kriegen würde, ich glaube, da gibt es eine Abreibung für uns.«
    »Ich weiß von nichts. Und wenn der Dummkopf sich an mir vergreifen will, bekommt er einen zweiten Prozess. Beruhige dich.«
    »Ich bin nicht beunruhigt, überhaupt nicht.« Ich ärgerte mich, dass Bernhard, der noch immer zur Schule ging, mit mir redete, als sei ich ein Idiot oder ein kleines Kind.
    »Schon gut«, sagte Bernhard, »und was ist mit dem Werkzeug? Hast du dir das überlegt?«
    Ich schüttelte den Kopf, drehte mich um und ging wortlos davon. Ich wollte mit ihm nichts zu tun haben, und da ich meine Lehre machte, traf ich ihn selten und verlor ihn schließlich aus den Augen. Ich arbeitete in der Schlosserei von Herrn Merkel, und einmal in der Woche fuhr ich zur Berufsschule in die Kreisstadt. Ich hatte keine Zeit, irgendwo herumzustehen und zu schwatzen oder kindliche Streiche auszuhecken.
    Die Arbeit war schwer, bei Merkel wurden die Lehrlingehart rangenommen. Pünktlich um sieben Uhr mussten wir umgezogen in der Werkstatt stehen, und dann ging es bis vier Uhr dreißig rund. Es gab zwei Pausen, die keiner überziehen durfte, denn dann fing Merkel gleich an zu brüllen, wir würden ihn ruinieren, und er würde es uns schon lehren, dem Herrgott nicht den Tag zu stehlen. Wir machten alles von Hand. An die elektrischen Maschinen durften nur die Gesellen ran, weil sie teuer waren und wir sie demolieren würden, und so mussten wir das Bohren und Schleifen und Entgraten alles mit seinem vorsintflutlichen Werkzeug machen, das sicher schon mehr als hundert Jahre alt war. Bei ihm hatten wir schwer zu schleppen. Wir hatten Gussstücke, die mindestens einen halben Zentner wogen, mit der Hand hochzuheben und einzuspannen. Es gab zwar zwei Seilzüge mit Elektromotoren in der Werkstatt, aber Merkel sah es nicht gern, wenn wir damit hantierten. Ihm dauerte es einfach zu lange, wenn wir den Seilzug heranholten und das Werkstück sorgsam befestigten, um es dann zur Werkbank oder zur Ablage an der Wand zu dirigieren. Merkel verlangte von allen Lehrlingen, die schweren Teile selber zu schleppen. Wir seien hier nicht in der Sommerfrische, sagte er, sondern wir sollten bei ihm etwas Verstand und ein paar Muskeln bekommen. Wer sich für die Arbeit zu schade sei oder sich nicht schmutzig machen wolle, solle sich ruhig bei ihm melden, er würde ihm dann schon weiterhelfen. Die Gesellen, die sich immer einen der Seilzüge holten, wenn sie etwas transportieren mussten, lachten dann laut, und wir standen mit gesenktem Kopf in der Halle und schleppten die Gussstücke, die uns den Schweiß auf die Stirn und die Tränen in die Augen trieben. Das Einzige, was an Merkel zu schätzen war, er behandelte alle gleich und bevorzugte niemanden, er war zu allen gleichermaßen unwirsch und grob, doch man konnte bei ihm was lernen, und darum war ich bei ihm und beschwerte mich nie über den Alten. Und bei wem hätte ich mich beschweren können? Lehrjahre sindkeine Herrenjahre, hatte mein Vater gesagt, und danach hatte ich mich zu richten. Nach der Lehrzeit wollte ich ohnehin nicht in Merkels Schlosserei bleiben. Ich wollte versuchen, als Autoschlosser zu arbeiten, das schien mir aussichtsreich und vielversprechend zu sein, und mit Automotoren kannte ich mich aus.
    Von Bernhard hörte ich eigentlich nichts mehr, seitdem ich die Schule verlassen hatte, wir hatten nichts miteinander zu tun. Dann gab es diese Geschichte mit der Genossenschaft, über die alle in der Stadt redeten. Bernhard hatte sich dabei irgendwie hervorgetan. Ich selbst habe es nicht miterlebt, da wir in jener Zeit an einem größeren Auftrag außerhalb der Stadt arbeiteten, wir bauten an dem Stahlgerüst eines Gaswerkes und wohnten wochenlang in einem Bauwagen, der so

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