Landnahme
nicht zu interessieren. Warum Bernhard es ihnen sagen wollte, verstand ich nicht. Ich wusste, es war gelogen, er hatte nichts weiter von den Polizisten gehört und schon gar nicht, dass sie an den Fluss gehen wollten. Bernhard grinste mich zufrieden an. Dann drehte sich einer der Männer zu uns um und sagte nochmals, wir sollten machen, dass wir hier verschwinden. Langsam, sehr langsam gingen wir weiter, keiner sollte meinen, dass uns einer einfach so wegschicken könne.
»Und was sollte das Ganze?«, fragte ich ihn, »warum hast du ihnen gesagt, dass die Polizisten zur Baustelle gehen?« Ich verbesserte mich und sagte: »Die Bullen.«
So hatte der Arbeiter die Polizisten genannt. Ich kannte den Ausdruck nicht, er gefiel mir, wenn ich auch nicht verstand, was das bedeuten sollte. Es gefiel mir, wie man ihn aussprechen konnte. Vor den richtigen Bullen, diesen riesigen Tieren, hatte ich Respekt, jedermann nahm sich vor Bullen in Acht, aber so wie der Arbeiter das Wort ausgesprochen hatte, war es das Allerletzte, vor dem man sich fürchten musste.
»Überleg selber. Wenn sie zurückkehren und die Bescherung entdecken, was werden sie sich zusammenreimen?«
»Du glaubst doch nicht ...«
»Jedenfalls werden sie nicht auf uns kommen.«
In der nächsten halben Stunde passierte nichts auf dem Markt. Dann gingen ein paar Arbeiter weg und kamen miteiner Holzfälleraxt zurück und einer Brechstange. Sie begannen den weißen Holzkasten mit der Friedenstaube, auf dem zuvor der Fahnenschmuck gehangen hatte, zusammenzuschlagen. Die Latten splitterten beim ersten Schlag, und in wenigen Minuten lag das gesamte Holzgerüst auf dem Straßenpflaster. Von der Friedenstaube war nicht viel übrig geblieben. Eins der aufgemalten Augen und der rote Schnabel waren unter dem zersplitterten Holz zu erkennen. Ein graues viereckiges Monument, das unter dem Kasten verborgen war, sah ich zum ersten Mal und ging näher heran. Es war ein Denkmal für die Gefallenen des Weltkriegs, des ersten Weltkriegs, wie man den Zahlen der Todesjahre entnehmen konnte, die hinter den Namen standen. Auf allen vier Seiten des Monuments waren Einschusslöcher zu sehen, und oben auf der Spitze des Denkmals wohl die Reste der Nachbildung eines Eisernen Kreuzes, es war lediglich zu vermuten, so sehr war es beschädigt. Die Männer, die das Gerüst zerstört hatten, schienen mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein, sie lachten laut und deuteten auf das Denkmal und auf die daneben liegenden zersplitterten Holzwände. Dann trat auf dem Platz wieder Ruhe ein, weil alle sich das Monument ansahen, das seit dem Ende des Krieges unter dem Holzgerüst versteckt gewesen war. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schultern, ich fuhr herum, neben mir stand Herr Frieder, ein Arbeitskollege von Vater, der manchmal bei uns klingelte, um Vater zur Arbeit abzuholen oder abends zum Kegeln.
»Komm, Jungchen, wir gehen jetzt«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf und wand mich aus seinem Griff.
»Komm«, sagte er nochmals, »jetzt ist der Spaß vorbei. Ab jetzt wird es ungemütlich.«
Er sagte es so leise und eindringlich, dass ich unsicher wurde und mich nach Bernhard umsah.
»Man muss immer wissen, wann Schluss ist. Komm.«
Ich sagte zu Bernhard, dass ich gehen müsse. Er nicktenur. Auf dem Heimweg sagte Herr Frieder zu mir, ich solle nicht glauben, dass die sich das gefallen lassen. Sie würden sich alle vornehmen, die sich auf dem Markt irgendwie beteiligt hätten, einen nach dem anderen, und wenn ihnen das nicht ausreichen sollte, würden sie sich an die Zuschauer halten, auch an die, die völlig unbeteiligt waren, darauf könne ich mich verlassen, und ich solle ihm dankbar sein, dass er mich mitgenommen habe, und mein Kumpel täte besser daran, jetzt zu verschwinden. Ich nickte nur. Ich hätte gern gewusst, wen er meinte mit denen, die Polizisten oder die im Rathaus oder irgendwelche Leute von außerhalb. Als ich ihn fragte, sagte er nur, dass ich mir das wohl denken könne.
Vater und Mutter waren bereits zu Hause, als ich kam, und beide hörten Radio. Sie fragten, wo ich gewesen war, und verboten mir, in den nächsten Tagen auf den Markt zu gehen. Ich sollte nach der Schule direkt nach Hause kommen, sie würden es kontrollieren. Dann setzten sich beide wieder an den Apparat und versuchten, die aufgeregte Stimme eines Radiosprechers zu verstehen, die durch Krächzen und Knattern eines Störsenders kaum vernehmbar war. Ich ging in mein Zimmer, holte die Lötlampe und das
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