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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Otto Dov Kulka
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lauschten wortlos seinen informativen Ausführungen, aber allen und auch mir war klar, dass er es war, in seiner heutigen Funktion als Erklärer und Führer auf dem Gelände.
    Äußerlich hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit der Person, die ich damals kannte, oder mit den späteren Fotografien, die irgendwo in Südamerika auftauchten und in der Presse veröffentlicht wurden. Dieser Mann hier war in seinen Fünfzigern oder Sechzigern, mit ergrautem Haar, einem ziemlich runden Gesicht und von durchschnittlicher Größe; aber wie gesagt, mir und auch allen anderen war klar, dass er es war. Doktor Mengele.

    Abb. 44

    Abb. 45
    Ich kam mit ihm ins Gespräch. Seine gegenwärtige Arbeit kam mir nicht übermäßig sonderbar vor, aber was mir sonderbar schien und wonach ich ihn auch direkt fragte, war: »Wo sind Sie in all den Jahren seit damals gewesen?« Seine für ihn völlig selbstverständliche Antwort lautete: »Was soll das heißen, wo ich gewesen bin? Hier war ich, die ganze Zeit!« Also in diesem Bau inmitten dieser Ruinen, in dieser seltsamen Anlage, über deren Funktion kein Zweifel herrschen konnte, obgleich ihre äußere Form nicht darauf hinwies. Er jedoch ist schlicht und einfach immer hier gewesen. Und es war unmöglich, oder es bestand kein Grund, dies zu bezweifeln. Vielleicht war er wie eine jener zeitlosen Erscheinungen, die in geheimnisumwobenen alten Gemäuern oder deren Ruinen hausen. Aber das ist nur ein weiterer Gedanke, worauf vielleicht auch das Gefühl der »Selbstverständlichkeit« beruhte, obwohl er, als ich mit ihm sprach, eine in jeder Hinsicht normale menschliche Gestalt war.
    Auf dem Tisch dort stand ein Telefon, ähnlich den grauen flachen Apparaten, die es in den Arbeitszimmern der Universität gibt. Ich erinnere mich noch, dass ich meinen verstorbenen Vater anrief, um ihm mitzuteilen, dass Mengele hier war und er ihn interviewen könne. Und ich erinnere mich auch, dass mein Vater kam, allerdings weiß ich nicht, ob er ihn interviewt hat, ob es dazu kam. Wie dem auch sei, überaus scharf und deutlich erinnere ich, dass einer der Israelis, der an dem langen Tisch saß und die Erklärungen anhörte, jemand, der sicher nicht im Lager gewesen war, sich aufgebracht an mich wandte und verwirrt fragte: »Wie kannst du nur mit ihm reden?« Uns beiden war klar, dass er mit »ihm« Mengele meinte – nicht als Führer und Erklärer in seiner gegenwärtigen Funktion, sondern in seiner damaligen Identität.
    Ich hingegen fand daran nichts Sonderbares oder Ungewöhnliches. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob ich überhaupt den Versuch machte, zu antworten oder ihm das zu erklären.
    So weit meine Erinnerung, und mir scheint, dass ich das Wesentliche erinnere, oder alles.
    Ich unternehme keinen Versuch diesen Traum auszulegen, auch wenn es sich sehr anbietet.

13

Gottes Schmerz
    17. August 2002
    Ein Traum über Gottes physische Existenz oder physische Präsenz – im Krematorium; oder ein Traum über Gottes Existenz und die Frage seiner Existenz. Es war überhaupt keine Frage, sondern eine Antwort – im Traum, in Auschwitz, im Krematorium, ein Traum mit wiederkehrendem Schauplatz: Ich betrat ihn durch die Ruinen des Krematoriums Nr. 2, rechter Hand der Eisenbahnschienen, an der Seite »unseres Lagers«.

    Abb. 46
    Ich schrieb ihn im Nachhinein auf Notizzettel, heute, am Tag nach der Nacht des Traumes: ein Schabbatmorgen im Monat Av (das hebräische Tagesdatum weiß ich nicht), der 17. August im allgemein üblichen Kalender.
    15. November 2002
    Freitagnachmittag, Givat Ram Campus. Diese Schönheit und die Ruhe, alles liegt verlassen da, der Himmel noch blau, aber nicht makellos. Die schweigenden Gebäude und die jungen Bäume, die nach dem großen Schnee gepflanzt wurden – nichts regt oder rührt sich in ihnen. Stille und ruhige Erwartung, wachsam vielleicht, doch ohne äußeres Anzeichen, liegen in allem. In jedem Detail der Umgebung und von Horizont zu Horizont. Erwartung von was? Stürmische Winde und Blitze des Winters? Einer sich abzeichnenden Katastrophe? Des Großen Todes in seiner Verwandlung, hier in diesem Land und in dieser Stadt – in der »Ewigen Stadt«, im »Gelobten Land« – das Wiederaufleben der Herrschaft des Todes – hier?
    Kein Bogen in der Wolke. 13 Im Midrasch steht geschrieben: »Ich versprach nicht, [dass die Welt nie] durch Feuer [untergehen wird]«. 14 Der Große Tod – dem Feuer vorausgehend – hatte ein Herausblasen des Gases. »Was geschehen ist, wird wieder

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