Lange Zähne
hierbleiben.«
»Wie bitte?« gab Tommy zurück.
»Du mußt in die Großstadt gehen
und verhungern. Ich kann einen Kafka nicht von einer Kaserne unterscheiden,
aber ich weiß, wenn man Schriftsteller werden will, muß man verhungern. Wenn du
nicht verhungerst, wirst du es nie zu was bringen.«
»Ich weiß nicht, Harley«, wandte
Tom Flood Senior ein, offenkundig nicht überzeugt, ob er seinen dürren Sohn
wirklich verhungern sehen wollte.
»Wer hat letzten Mittwoch einen
Dreihunderter gebowlt, Tom?“
»Du.«
»Und ich sage, der Junge muß in die Großstadt gehen und
verhungern.«
Tom Flood sah Tommy an, als würde
der Junge auf der Falltür eines Galgens stehen. »Bist du dir mit dieser
Schriftsteller-Sache wirklich sicher, Sohn?«
Tommy nickte.
»Soll ich dir ein Sandwich
machen?«
Hätte es da nicht ein besonders
plattes Dokudrama über das Bombenattentat auf das World Trade Center im
Fernsehen gegeben, wäre Tommy vielleicht in New York verhungert, aber Tom
Senior ließ nicht zu, daß sein Sohn »von einem Haufen terroristischer
Kameltreiber in die Luft gejagt« wurde. Vielleicht wäre Tommy auch in Paris
verhungert, wenn eine oberflächliche Inspektion des Volvos nicht enthüllt
hätte, daß dieser eine derart feuchte Fahrt nicht überstehen würde. Und so war
Tommy schließlich in San Francisco gelandet, und obgleich er jetzt ein
Frühstück vertragen hätte, machte er sich doch mehr Sorgen wegen der Blumen
denn über Nahrung.
Ich sollte hierbleiben, um zu
sehen, wer mir immer die Blumen hinstellt, dachte er. Den oder die Übeltäter in
flagranti ertappen.
Aber er war nun seit mehr als
einer Woche arbeitslos. Seine im Mittelwesten gezeugte Arbeitsmoral trieb ihn
aus dem Bett.
Er trug in der Dusche seine
Turnschuhe, damit seine Füße nicht in Berührung mit dem Boden kamen, dann zog
er sein bestes Hemd und seine Arbeitssuche-Jeans an, griff sich ein Notizbuch
und platschte die Treppe hinunter ins Herz von Chinatown.
Der Bürgersteig wimmelte von
Asiaten. Männer und Frauen schoben sich geduldig an offenen Marktständen
vorbei, wo lebende Fische, gebratenes Fleisch und Tausende von Gemüsesorten,
deren Namen Tommy nicht kannte, feilgeboten wurden. Tommy kam an einem Stand
vorbei, wo sich lebende Schnappschildkröten von über einem halben Meter
Durchmesser abmühten, aus Plastikkisten zu entkommen. Im nächsten Schaufenster
waren Tabletts mit Entenfüßen und -schnäbeln um einen geräucherten Schweinskopf
arrangiert. Darüber hingen nackte Fasane.
Die Luft war schwer von den
Gerüchen dicht gedrängter Menschen, Sojasauce, Sesamöl, Lakritz und
Auspuffgasen - die allgegenwärtigen Auspuffgase. Tommy schlenderte die Grant
hinauf und überquerte den Broadway nach North Beach hinein, wo die
Menschenmassen ausdünnten und die Gerüche sich in ein Miasma aus warmem Brot,
Knoblauch, Oregano und noch mehr Auspuffgasen verwandelten. Egal, wo er in der
Stadt hinging, überall herrschte eine aromatische Mischung aus Essen und
Fahrzeugen, wie die alchimistischen Gebräue irgendeines verrückten
Gourmet-Mechanikers: Kung Pao Saab Turbo, Buick Skylark Carbonara, Metro-Bus
süßsauer, Honda Bolognese mit Schleifender-Kupplung-Soße.
Tommy wurde von einem schrillen
Kriegsgeheul aus seiner geruchlichen Versenkung gerissen. Er blickte auf und
sah einen Rollerbladeläufer mit reflektierenden Knieschützern und Helm mit
irrem Tempo auf sich zurasen. Ein alter Mann, der ein Stück weiter vorn auf dem
Bürgersteig hockte und seine beiden Hunde mit Croissants fütterte, schaute kurz
auf und warf ein Croissant quer über den Gehweg. Die Hunde jagten dem
Leckerbissen nach und zogen dabei ihre Paketschnur-Leinen stramm. Tommy stockte
der Atem. Der Rollerbladeläufer traf auf die Paketschnur und segelte in einem
Drei-Meter-Bogen durch die Luft, bevor er in einem Knäuel aus
polstergeschützten Gliedmaßen und Rädern vor Tommys Füßen auf den Bürgersteig
krachte.
»Haben Sie sich etwas getan?«
Tommy bot dem Rollerbladeläufer
seine Hand an, doch der winkte nur ab. »Nichts passiert.« Blut tropfte aus
einer Abschürfung an seinem Kinn, und seine selbstleuchtende Sonnenbrille hing
schief in seinem Gesicht.
»Vielleicht solltest du auf dem
Bürgersteig etwas langsamer fahren«, rief der alte Mann.
Der Rollerbladeläufer setzte sich
auf und drehte sich zu dem alten Mann um. »Oh, Euer Majestät. Das habe ich
nicht gewußt. Es tut mir leid.«
»Sicherheit geht vor, Sohn«, sagte
der alte Mann mit einem
Weitere Kostenlose Bücher