Lanzarote
ausgewählte Arten sind entlang mit Vulkanstein gepfasterten Wegen ange pfanzt. Fett und stachelig, versinnbildlichen die Kakteen das Obszöne der Pfanzenwelt in Vollendung – milde gesagt. Egal, der K akteengarten ist nicht sehr groß; was mich anbelangt, der Besuch dort wäre in einer knappen halben Stunde abgehakt gewesen. Aber ich war gemeinsam mit einer Gruppe dorthin gefahren, und wir mussten auf einen belgischen Schnurrbart träger warten. Ich war an dem Mann vorbeigegangen, als er vollkommen regungslos einen großen, violetten Kaktus in Pimmelform studierte, neben den von Künstlerhand zwei kleinere runde Kakteen gepfanzt waren, wohl die Eier. Sei ne Konzentration beeindruckte mich: Gewiss hatten wir es hier mit einem Kuriosum zu tun, aber es war doch nicht das einzige. Andere Exemplare sahen aus wie eine Schneefocke, ein schlafender Mann, eine Wasserkanne. An hoffnungslose Lebensverhältnisse ideal angepasst, führen die Kakteen, sagen wir mal: ein ungezwungenes Leben, was ihre Formen angeht. Sie wachsen mehr oder weniger allein und sehen sich keinerlei Verpfichtung ausgesetzt, sich den Erfordernissen irgendeiner Pfanzengemeinschaft unterzuordnen. Tierische Fressfeinde sind ohnehin selten und werden überdies von vornherein durch die dicht an dicht stehenden Stachel abgeschreckt. Die ses Fehlen eines Selektionsdrucks erlaubt den Kakteen, unge niert eine große Vielfalt an grotesken, zum Amüsement der
Touristen geeigneten Formen hervorzubringen. Vor allem die Nachbildung männlicher Geschlechtsteile hat unfehlbar eine gewisse Wirkung auf italienische Touristinnen; doch bei diesem Schnurrbärtigen mit belgisch wirkendem Äuße ren ging es sehr viel weiter; ich erkannte an dem Mann alle Anzeichen wahrhaftiger Faszination.
Lanzarotes zweite Sehenswürdigkeit ist etwas weitläufger; sie ist der Höhepunkt der Reise. Es handelt sich um den Parque National‘de Titnanfaya im Epizentrum der Vulkanaus brüche. Niemand lasse sich vom Wort N ationalpark tauschen: Auf den circa zwölf Quadratkilometern des Geländes wird man so gut wie nie einem lebenden Tier begegnen, abgesehen von ein paar Kamelen, die beim Fremdenverkehrsgewerbe ein gesetzt werden. Im vom Hotel angemieteten Minibus kam ich zufällig neben dem Schnurrbärtigen zu sitzen. Nach wenigen Kilometern bogen wir auf eine Straße ein, die schnurgerade durch ein Felsenduo führte. Der erste Stopp zum Fotografe ren fand direkt vor der Einfahrt zum Nationalpark statt. Un gefähr einen Kilometer weit voraus erstreckte sich eine Ebene aus schwarzen, scharfkantigen Felsen; nicht ein Gewächs, nicht mal ein Insekt. Gleich dahinter begrenzten die Vulkane mit ihren roten, mancherorts fast violetten Hängen die Sicht. Diese Landschaft war von Erosion nicht gemildert, geformt worden; sie war von allumfassender Gewalt. Schweigen senkte sich über die Gruppe. Der Belgier stand in
einem U niversity of California -Sweatshirt und weißen Bermu das regungslos neben mir, sichtlich erregt und durcheinander. »Ich glaube ...«, sagte er tonlos; dann verstummte er. Ich sah ihn von der Seite an. Plötzlich war er befangen, hockte sich bin, holte seinen Fotoapparat aus einer Tasche und schraubte das Zoom ab, um es durch ein festes Objektiv zu ersetzen. Ich stieg wieder in den Minibus; als er nachkam, bot ich ihm den Fensterplatz an; er war begeistert. Zwei deutsche Touristinnen in Latzhosen hatten sich auf die Felsenebene hinausgewagt; trotz ihrer wuchtigen Wanderschuhe kamen sie nur mühsam voran. Der Fahrer hupte mehrmals; sie kamen zum Fahrzeug zurück, langsam schwankend, zwei dicke Elfen.
Der weitere Ausfug folgte demselben Schema. Die Straße verlief zentimetergenau schnurgerade zwischen messerschar fen Felsmauern; nach jedem Kilometer war mit Bulldozern eine Aussichtsplattform geschaffen worden, auf die zuvor ein Schild mit der Abbildung einer Blasebalgkamera hinwies. Wir hielten an, stiegen aus; die Ausfügler verteilten sich auf den wenigen Quadratmetern Asphalt und zuckten die Apparate. Sie empfanden, wie lächerlich sie vor ihren eigenen Augen wirkten, wie sie hier auf knappem Raum zusammengedrängt waren, und versuchten, sich wenigstens durch die Wahl der Bildausschnitte voneinander zu unterscheiden. Nach und nach entstand ein gewisses Gruppengefühl. Obwohl ich keine Kamera dabeihatte, fühlte ich nun
voll und ganz solidarisch mit dem Belgier. Selbst wenn er mich gebeten hätte, ihm beim Wechseln der Objektive behilfich zu sein oder seine Filter zu ordnen, ich
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