Lanze und Rose
kannst du es wagen, so etwas zu denken?«
Mit dem Kopf voran stürmte Liam auf ihn zu und stieß ihn gegen einen Baumstamm. Halb ohnmächtig seufzte Colin und rutschte zu Boden. Liam packte ihn am Kragen, zwang ihn zum Aufstehen und schwenkte die Faust vor seinem aschfahlen Gesicht.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Colin Macdonald. Das ist es ja gerade.«
Mit zusammengebissenen Zähnen gab er ihn endlich frei und stieß ihn von sich. Colin hielt sich an dem Baum fest, um nicht zu stürzen.
»Ich werde fortgehen«, erklärte Colin nach kurzem, bedrückendem Schweigen. »Sobald der Aufstand vorüber ist… Ich werde Schottland verlassen und in die Neue Welt gehen.«
Liam öffnete den Mund. Nein, lieber sagte er jetzt nichts. Zweifellos war es besser so.
»Im Grunde meines Herzens liebe ich dich immer noch, Liam … Aber ich liebe auch Caitlin, und ich kann nichts dagegen tun. Um die Wahrheit zu sagen, glaube ich nicht, dass ich jemals in der Lage sein werde, eine andere Frau zu lieben, solange sie da ist. Ich wünschte, du könntest das verstehen.«
»Ich versuche es.«
Einige Augenblicke lang sahen sie sich wortlos an, dann fuhr Colin fort.
»Ich habe es versucht, weißt du … Mit Maureen. Ich hatte es beinahe geschafft. Aber als sie das Kind verloren hat …«
Aufgewühlt verstummte er. Eine Träne rann über seine Wange.
»Wie konntest du nur, Colin? Du hast dich von ihr abgewandt, weil sie das Kind verloren hat?«
»Nein, so ist das nicht, es ist komplizierter. Caitlin … Sie hat nie ein Kind verloren. Ich hatte Angst, und ich bin fortgegangen, um Bilanz zu ziehen. Ich habe mich vor meiner eigenen Reaktion gefürchtet. Ich weiß, dass ich bei Maureen hätte bleiben sollen, dass sie Trost brauchte. Doch ich war nicht in der Lage, ihr den zu geben.«
»Hast du ihr deswegen Vorwürfe gemacht?«
»Nein, nicht ihr, sondern mir selbst. Herrgott, ich habe sie mit Caitlin verglichen! Caitlin hätte das Kind nicht verloren! Verstehst du, was ich dir zu erklären versuche? Damals habe ich erkannt, dass ich nicht Maureen liebte, sondern Caitlin, auf dem Umweg über sie. Doch jetzt war Maureen nicht mehr so wie Caitlin.«
Liam nickte. Doch um die Wahrheit zu sagen, begriff er nicht allzu viel von dem, was sein Bruder sich da zusammenfantasierte.
»Sie war nicht Caitlin.«
»Aber dass Caitlin nie ein Kind verloren hat, war reines Glück, nichts weiter.«
»Vielleicht«, stammelte Colin matt und ließ sich zu Boden gleiten. »Wenn ich gesehen habe, wie sie schwanger war von dir, dann habe ich mir eingebildet, das wäre mein Kind. Oh, Liam, ich habe mir vorgestellt… Bei Nacht hat ihr Bild mich verfolgt. Wie oft habe ich sie in Gedanken umarmt, mich an deine Stelle versetzt.«
»Verschone mich mit Einzelheiten, ja!«
Eindeutig, die Besessenheit seines Bruders ging tiefer, als er geglaubt hatte. Offensichtlich war es für alle die beste Lösung, wenn er in die Kolonien ging. Mit einem Mal schmerzte ihn der Druck in der Magengrube noch stärker, und eine entsetzliche Furcht beschlich ihn. Er spürte, dass seine Beine ihn kaum noch tragen mochten, und bekam keine Luft mehr.
»Colin, hast du jemals …?«
Er brachte es nicht fertig, die Frage auszusprechen, die ihn quälte und ihn das Schlimmste befürchten ließ. Sein Bruder erhob das tränennasse Gesicht zu ihm.
»Was?«
»Caitlin … Ich möchte wissen … Hast du sie … berührt?«
Colin sah ihn einen Moment lang fragend an, dann legte sich ein ungläubiger Ausdruck über seine Miene, als er die Frage verstand, die ihm gestellt wurde. Liams Züge wirkten wie erstarrt.
»Colin?«
»Nein. Also, einmal vielleicht …«
Ein unangenehmes Gefühl ergriff Liam. Sein Mund verzerrte sich, und ein entsetzliches Stöhnen drang über seine Lippen. Er schloss die Augen.
»Ich habe sie geküsst. Ein einziges Mal nur, das ist alles. Das schwöre ich dir beim Grab unseres Vaters.«
»Geküsst? Wann?«
»An eurem Hochzeitstag, unmittelbar bevor ich sie in die Kirche geführt habe… Eigentlich sollte ich eher sagen, dass ich ihr einen Kuss gestohlen habe, denn, verstehst du … Sie wollte nicht.«
»Hast du sie gezwungen?«
»So weit würde ich nicht gehen. Sagen wir, dass ich sie überrumpelt habe.«
»Und danach nie wieder?«
Sein Herz pochte so heftig, dass er meinte, seine Brust müsse zerspringen. Was würde er tun, wenn Colin ihm gestand, dass er seine Frau mit Gewalt genommen hatte? Seine Finger krampften sich so fest um das Heft seines
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