Lanze und Rose
zu überraschen.«
»Hat Onkel Colin ebenfalls Reisende überfallen? Willst du sagen, dass er ein Straßenräuber ist?«
»Er war es«, verbesserte Liam und prüfte mit dem Fingernagel die Schärfe seiner Klinge. »Seine Laufbahn war von sehr kurzer Dauer. Das war im Jahre 1697. MacKellar, Colin und einer der Macgregors hatten angeblich in der Nähe von Bracaldine einem Reisenden die Kehle durchgeschnitten und ihm fast achthundert schottische Pfund gestohlen. Colin und Macgregor behaupteten, MacKellar habe das scheußliche Verbrechen begangen. Das Geld haben sie sich aber trotzdem geteilt. Zwei Wochen später tauchte die Garde im Tal auf. Jemand hatte MacKellar denunziert und
verraten, dass er sich bei uns versteckt hielt. Colin hatte gerade noch Zeit, sich mit seinen Kumpanen in den Hügeln zu verstecken. John hat man vorgeworfen, einem Mörder Asyl zu gewähren, und MacKellar wurde unter starker Bewachung nach Fort William gebracht, wo man ihn aufhängte. Damit war die Laufbahn deines Onkels als Straßenräuber beendet. Anschließend hat er sich auf Überfälle gegen die Ländereien der Campbells verlegt, und da er niemals etwas so macht wie alle anderen …«
Aus dem Augenwinkel beobachteten Liam seinen ältesten Sohn, der an demselben Baum lehnte, an den sich kurz zuvor noch Colin gestützt hatte. Als der junge Mann den Namen Campbell vernahm, errötete er, sagte aber nichts. Duncan war vor drei Wochen wieder zur Armee gestoßen. Liam hatte nicht gewagt, ihn nach der Tochter des Laird von Glenlyon zu fragen, und darauf gewartet, dass sein Sohn von selbst darauf zu sprechen kam. Doch der hatte kein Wort über das Thema verloren. Einige Männer aus dem Clan hatten ihn bei mehreren Gelegenheiten damit aufgezogen. Da war der junge Mann, der für gewöhnlich von so ausgeglichenem Temperament war, derart in Rage geraten, dass Liam hellhörig geworden war. Ganz ohne Zweifel war etwas vorgefallen.
»Dann wird mein Onkel also in die Neue Welt gehen?«, fragte Duncan, doch er wirkte abwesend.
»Anscheinend ja. Es ist seine Entscheidung.«
»Aber du billigst sie?«
Liam überprüfte die zweite Schneide der Klinge. Zufrieden mit seiner Arbeit, steckte er dann seinen Stein ein und wandte sich seinem Sohn zu.
»Wenn es das Einzige ist, das ihm Frieden schenken kann, ja.«
»Aber er ist der letzte Familienangehörige, den du noch im Tal hast, Vater«, meinte Duncan und schaute ihn ernst an.
»Ich weiß, Duncan. Aber es ist sein Leben, nicht meines.«
»Auf jeden Fall weiß ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn Ran mir sagen würde, dass er für immer fortgeht.«
»Du würdest schon lernen, seinen Entschluss zu akzeptieren.«
Liam entfaltete seine Beine und streckte sie stöhnend aus.
»Apropos«, sagte er und sah zu den Sternen auf, die bereits an dem indigoblauen Himmel zu funkeln begannen, »warum wolltest du denn nun mit mir sprechen?«
»Ich … Ach was! Das kann warten.«
Duncan räusperte sich. Entschlossen, ihn endlich zum Reden zu bringen, holte Liam noch einmal aus.
»Hat es etwas mit dem Campbell-Mädchen zu tun?«
Duncan erstarrte.
»Ähem… Schon möglich …«, stammelte Duncan und strich sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr. »Also gut, ja.«
»Na schön, was hast du auf dem Herzen?«
»Ich weiß nicht so recht, wo ich beginnen soll …«
Liam lächelte in sich hinein. Ganz offensichtlich gab er heute Abend den Beichtvater für alle gequälten Seelen ab.
»Wie wäre es mit dem Anfang?«
»Ich weiß nicht, Vater …«
Mit einer blitzschnellen Bewegung verscheuchte er ein kleines Nachtpfauenauge, das sich auf seinen Schenkel gesetzt hatte. Dann brach er einen Zweig von einer rosafarbenen Calluna ab, um daran zu riechen. 20
»Wie…«
Geduldig wartete Liam auf die Fortsetzung, doch vergeblich.
»Duncan?«
»Ach, Herrgott! Dieses Mädchen macht mich noch wahnsinnig. Aber ich weiß nicht genau, was ich für sie empfinde.«
»Mhhh … Ist mir auch schon passiert.«
»Tatsächlich?«, fragte Duncan verblüfft und sah seinen Vater aus großen, erstaunten Augen an. »Wann? Ich meine, bei wem?«
»Deiner Mutter…«
»Und bei deiner ersten Frau, Anna?«
»Bei Anna war das etwas anderes. Bei ihr habe ich mir niemals Fragen gestellt. Alles hat sich einfach von selbst ergeben.«
»Und wie war das bei Mutter?«
»Sie sollte eigentlich nur so lange in Glencoe bleiben, bis sie von einer Verletzung genesen war. Ich wollte mich nicht an sie binden, und zwar aus mehreren
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