Lanze und Rose
Schuld…«
»Das konntest du doch nicht wissen.«
Sie warf ihm einen hilflosen Blick voller Reue zu.
»Mein eigener Bruder … Er hat uns verraten. Er ist ein Feind unserer Sache. Warum nur?«
»Wenn ich ihn recht verstanden habe, hat er es getan, um eurem Vater zu helfen.«
»Für ein Stück Land? Herrgott! Mein Vater wird am Boden zerstört sein, wenn er davon erfährt.«
Duncan spürte einen unbezähmbaren Drang, Marion in die Arme zu nehmen, sie an sich zu ziehen und ihr beruhigende Worte zuzuflüstern, während er mit den Fingern durch ihre Locken strich; doch er tat nichts dergleichen; er hatte ihr innerlich entsagt. Sie war nicht für ihn bestimmt. Irgendwann hatte er geglaubt, alles sei möglich, doch das dachte er jetzt nicht mehr. Ein anderer würde sie in die Arme nehmen, ihre Haut liebkosen…
»Als ich klein war«, fuhr sie fort und sah zum Sternenhimmel auf, »bin ich in der warmen Jahreszeit oft, wenn alle schliefen, aus dem Haus geschlichen, habe mich in ein altes Plaid gewickelt und hier an der Mauer niedergelegt. Manchmal bin ich eingeschlafen und erst beim ersten Hahnenschrei aufgewacht. Dann bin ich heimlich wieder in mein Bett geschlichen, damit Amelia keinen Schrecken bekam, wenn sie mich zum Frühstück holen kam. Arme Amelia… Sie ist zutiefst bestürzt über das, was geschehen ist.«
»Sie kann mich nicht besonders gut leiden«, bemerkte Duncan mit ironischem Unterton.
Marion stieß ein leises, kehliges Lachen aus, das wie das Gurren einer Taube klang.
»Sie hält nicht viel von den Männern aus Glencoe, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil einer von ihnen bei dem großen Überfall von Atholl ihren Mann getötet hat. Du verstehst…«
»Ah!«
Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann wies Marion auf die kleinen glitzernden Punkte am dunklen Himmelszelt.
»Der dort ist der Polarstern. Ich nenne ihn die Achse des Himmels.«
»Er gehört zum Sternbild Ursa Minor .«
Erstaunt zog die junge Frau die Brauen hoch.
»Du kennst dich damit aus?«
»Mein Vater hat es mich gelehrt.«
Angesichts ihrer verblüfften Miene lachte er leise.
»Ich bin nicht vollkommen unwissend, weißt du. Ich kann die
englische Sprache lesen, ein wenig Französisch … Und ich spreche meine Gebete auf Latein.«
»Oh! Das wollte ich damit gar nicht sagen …«
»Hast du vielleicht gedacht, ich brächte meine Zeit damit zu, mich zu schlagen und Pläne auszuhecken, wie ich euer Vieh stehlen kann…?«
Sie war empört.
»So habe ich das nicht gemeint!«
Er schüttete sich vor Lachen aus und wies dann ebenfalls zum Himmel, doch ein wenig tiefer, östlicher.
»Ursa major , der große Bär«, erklärte er. »Das ist die Mutter. Kennst du die Geschichte der Sternbilder des kleinen und des großen Bären?« 30
»Nein«, antwortete Marion ein wenig kurz angebunden.
»Kennst du die römische Mythologie?«
»Ein wenig«, gab sie mürrisch zurück.
»Callisto war die Lieblingsnymphe der Jagdgöttin Diana. Sie war sehr schön…«
Er legte eine Pause ein und warf Marion einen vielsagenden Blick zu. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort.
»Der Gott Jupiter wurde auf sie aufmerksam und wollte sie verführen. Dazu nahm er Dianas Gestalt an. Doch Diana war nicht dumm und kam ihm auf die Schliche. Eifersüchtig und zornig verbannte sie die schöne Callisto aus ihren Gärten, obwohl diese versicherte, sie habe versucht, sich dem Gott zu widersetzen. Einige Monate später brachte Callisto einen Sohn zur Welt, den sie Arcas nannte. Hmmm… Doch damit waren die Leiden des armen Mädchens noch nicht vorüber. Als Jupiters Gattin davon erfuhr, strafte sie Callisto mit ihrem Zorn. Juno verwandelte Callisto in eine Bärin, und sie lief in den Wald davon. Arcas verschonte Juno, doch er wuchs fern von seiner Mutter auf. In seinem fünfzehnten Jahr begegnete der Jüngling auf einer Jagd der Bärin, die einmal seine Mutter gewesen war. Sofort nahm er die Verfolgung auf und holte sie ein. Doch kurz
bevor er sie töten konnte, griff glücklicherweise Jupiter ein, der Callisto immer noch liebte. Erschrocken über das Geschehene hob er sie auf und verwandelte sie in die Sternbilder Callisto und Arcas. Und seitdem schmücken die große Bärin und ihr Sohn das Firmament.«
Marion lächelte.
»Das ist traurig, aber sehr schön. Diese Geschichte kannte ich nicht.«
»Jetzt wirst du dich jedes Mal daran erinnern, wenn du hierherkommst…«
Er strich über die weiße Hand, die auf dem wollenen Stoff des Umhangs lag.
»Und
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