Lanze und Rose
vielleicht denkst du dann auch ein wenig an mich.«
Kurz trafen sich ihre Blicke, dann schlug Marion die Augen nieder.
»Kennst du viele Geschichten wie diese?«
»Ein paar«, antwortete er und sprang von der Mauer. »Aber für heute Nacht ist eine genug. Du solltest wieder hineingehen und schlafen.«
Er reichte ihr eine Hand und half ihr beim Herunterklettern.
»Komm. Es ist kalt, und du zitterst ja.«
Drinnen legte sie mit einer raschen Bewegung ihren Umhang ab. Aus dem schwingenden Stoff stieg der Duft nach Rosenwasser auf, der in Duncan heftiges Begehren weckte. Dann trat sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters, wo das Feuer tief heruntergebrannt war. Er blieb in der Tür stehen.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie schüchtern.
»Dazu ist es ein wenig spät, Marion. Findest du nicht, dass du dich wieder hinlegen solltest?«
Sie lachte auf.
»Man könnte meinen, meinen Vater zu hören.«
Der rötliche Schein der Glut, die den Raum nur schwach erhellte, betonte die feuerrote Farbe ihres Haars.
»In der Bibliothek ist es sicher kalt…«
»Daran bin ich gewöhnt. Ich… ich wünsche dir eine gute Nacht, Marion.«
Er tat einige Schritte in den Korridor hinein. Doch Marion hielt ihn am Hemdärmel fest.
»Duncan… Ich möchte mit dir sprechen…«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Marion.«
»Nur ein paar Minuten, bitte…«
Er folgte ihr ins Arbeitszimmer. Sie bat ihn, bei ihr zu bleiben. Da wäre es dumm von ihm gewesen, sich ihre Gegenwart zu versagen. Andererseits war jeder zusätzliche Augenblick mit ihr eine Qual, die eine Ewigkeit zu dauern schien.
»Kurz.«
Er tat zwei, drei Schritte in den Raum hinein und wandte sich ihr zu. Dabei begegnete er den hellen Augen des fünften Earl of Glenlyon, der ihn über die Schulter seiner Enkelin hinweg anzusehen schien. Er biss die Zähne zusammen. Marion war seinem Blick gefolgt.
»Das ist Robert Campbell – als er noch sehr jung war. Das Bild ist zur Erinnerung an seine erste Erfahrung im Krieg entstanden, zu Beginn der Restauration.«
Duncan betrachtete das etwas blässliche Gesicht und den Mund, der zu klein für den kräftigen Kiefer zu sein schien. In den Zügen des Mannes lag etwas Feminines. Nichts wies darauf hin, dass er Jahre später zum Schlächter seiner eigenen Landsleute werden sollte, zum Urheber des Massakers von Glencoe. Der junge Mann war so in seine Überlegungen versunken, dass er Marion, die näher gekommen war, nicht bemerkte. Mit den Fingerspitzen strich sie ihm über die Wange, und er erschauerte.
»Ist die Narbe noch empfindlich?«
»Nur wenn ich lache.«
Marions Finger verhielten auf seiner Wange und folgten dem Wulst der Narbe. Im Raum schien es plötzlich sehr heiß zu sein. Er holte tief Luft, um seine Gefühle zu beherrschen.
»Ich wollte mich entschuldigen… Dafür, wie ich mich im ›Grey Owl‹ aufgeführt habe. Ich weiß, dass du mir nichts Böses wolltest, Duncan. Es war nur … Ich war noch so aufgewühlt von dem, was zuvor geschehen war. Ich hätte das alles nicht sagen dürfen…«
»Schon vergessen…«
Sie sah ihn aus ihren blauen Augen an. Die blauen Augen einer Wildkatze , dachte er. In ihren Bewegungen lag eine katzenhafte, sinnliche Anmut. Sie lächelte leise. Oh, dieses Lächeln! Sein Pulsschlag beschleunigte sich.
»Duncan… Da ist etwas, das ich wissen möchte…«
Sie zog die schmalen Augenbrauen zusammen und schaute unsicher drein. Er wartete darauf, dass sie weitersprechen würde.
»Ich möchte wissen… ob du Rache suchst…«
Er runzelte die Stirn und sah sie verwirrt an.
»Wovon redest du?«
Marion, die sichtlich verlegen war, trat von einem Fuß auf den anderen. Offenbar versuchte sie, ihm etwas zu sagen und musste dafür ihren ganzen Mut zusammennehmen.
»Wenn ich dich in jener Nacht in Killin, im ›Grey Owl‹, hätte gewähren lassen, was wäre dann geschehen?«
Er war so fassungslos, dass er einen Moment lang sprachlos dastand. Doch ihr flehender Blick machte ihm klar, dass sie eine Antwort hören wollte.
»Marion … Ich weiß es nicht … Ich…«
Sie verzog das Gesicht und wandte sich ab. Anscheinend war das nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. Aber was genau wollte sie eigentlich wissen?
»Marion«, fuhr er begütigend fort und hoffte, dass er nicht wieder einmal alles verderben würde. »Ich hatte nicht vor, dir deine Ehre zu rauben, wie du glaubtest. Aufrichtig, ich weiß nicht, was geschehen wäre. Aber du musst mir glauben. Und der
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