Lanze und Rose
diese Kriege zwischen den Clans … Statt sich zusammenzuschließen, um den Gegner zu vernichten, ihren wirklichen Feind, nämlich England, zerfleischten sie sich untereinander. Während des Feldzugs hatte er genügend Auseinandersetzungen erlebt, um zu verstehen, dass es ihnen auf diese Weise nie gelingen würde, die schottische Monarchie wieder einzusetzen. Doch was war zu tun? Die Highlander waren nun einmal so, wie sie waren – Menschen wie alle anderen. Er selbst machte da keine Ausnahme.
Es musste im Leben doch noch etwas anderes geben, als seinen Nachbarn zu verachten… Gewiss, die Beziehungen seines eigenen Clans zu den Camerons von Lochiel und den Macdonalds von Keppoch waren seit mehreren Generationen ausgezeichnet. Doch ein winziger Funke reichte aus, um alles zu verändern. Zu den Stewarts von Appin pflegten sie ein gutnachbarliches Verhältnis. Aber das war nicht immer so gewesen. Das Gleiche galt für die Macleans aus Ardgour und aus Duart. Zwischen ihnen war auch schon Blut geflossen. Doch was die Campbells anging …
Plötzlich riss ihn ein Knarren aus seinen Überlegungen. Er spitzte die Ohren; irgendwo quietschte eine Tür. War da jemand auf dem Weg nach draußen? Duncan setzte sich auf seinem Strohsack auf. John? Wenn dieser Spitzbube glaubte, sich auf Französisch empfehlen zu können … Er griff nach seinem Gürtel, schnallte sich eilig sein Plaid um, fuhr in die Stiefel und nahm dann seinen Dolch und seine Pistole. Ein Blick auf die anderen Männer, die im selben Raum nächtigten, verriet ihm, dass Colin und die Macgregors schliefen. Pah! Mit diesem Dummkopf würde er auch allein fertig werden.
Der junge Mann huschte aus dem Zimmer, schloss behutsam die Tür hinter sich und schlich auf leisen Sohlen zur Eingangstür. Er trat nach draußen. Der Mond stand hell direkt über dem Creag Dhearg, der das Tal von der kahlen Hochebene von Rannoch Moor trennte. Das weiche Licht tauchte die Landschaft in schimmernde, opalisierende Violett- und Blautöne, die sie unwirklich erscheinen ließen. Staunend stand Duncan vor dieser Szenerie.
Auf einem Steinmäuerchen saß reglos eine in einen Umhang gehüllte Gestalt und wandte ihm den Rücken zu. Duncan wollte schon auf demselben Wege zurückgehen, denn er wollte Marion nicht in ihrer einsamen Betrachtung stören. Doch die junge Frau wandte sich um.
»Duncan?«
»Ja, ich bin es…«
Er trat aus dem Schatten des Portals. Die Nacht war mild, und über dem Tal lag eine friedvolle Stille; die Art von Stille, wie es sie nur im Winter gibt. Alle Tiere lagen in tiefem Schlaf, in dicke Schichten aus Fett und Fell gehüllt, unter dem Boden vergraben und von einer Schneedecke bedeckt, die jedes Geräusch erstickte und dämpfte. Er ging die wenigen Stufen hinunter und schlug den Weg ein, der zu der Mauer führte. Unter seinen Schritten knirschte der Schnee.
»Das dritte Bodenbrett des Vorbaus knarrt«, erklärte Marion lächelnd. »Das habe ich zu meinem eigenen Schaden schon festgestellt.«
»Was machst du hier, so mitten in der Nacht?«
»Wenn ich nicht schlafen kann, komme ich her und setze mich auf diese Mauer. Und du? Warum bist du nach draußen gegangen?«
»Ich habe die Tür gehört. Da dachte ich, es wäre dein Bruder, der …«
»… davonläuft?«, unterbrach sie ihn. »Das würde er nicht wagen, der Feigling.«
Von neuem wandte sie sich dem Tal zu, das sich in sanften Wellen vor ihr ausbreitete. Sie ließ den Blick darüber schweifen und stieß einen langgezogenen Seufzer aus, der als kleines Dampfwölkchen in die Luft stieg.
»Herrlich, nicht wahr?«
Duncan hievte sich auf die Mauer und achtete darauf, einen gewissen Abstand zwischen ihnen zu wahren.
»Hmmm… ja.«
»Ich liebe die Stille. Da kann ich besser nachdenken.«
»Und worüber hast du nachgedacht?«
Sie baumelte mit den Beinen und ließ ein Weilchen verstreichen, ehe sie antwortete.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Bruder so etwas tun konnte!«
»Bist du sehr böse auf ihn?«
»Ob ich böse auf ihn bin? Ich hatte mich schon gefragt, ob ich ihm die Augen auskratzen soll oder … Oh! Ich kann nicht schlafen. Ich drehe und wende diese ganze Geschichte in meinem Kopf und versuche sie zu verstehen. Das macht mich krank.«
»Wir holen das Dokument zurück, Marion. Noch ist nicht alles verloren!«
»Ich hoffe es, Duncan. Ständig muss ich an all diese Menschen denken, deren Leben ich mit meinem Leichtsinn in Gefahr gebracht habe. Eigentlich ist alles meine
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