Lanze und Rose
er hat mir erklärt, er wolle den Ausgang des Aufstandes abwarten, bevor er etwas unternehmen würde. Er müsse noch darüber nachdenken.«
»Glaubt Ihr nun, dass er das gesagt hat, oder sind dies wirklich seine Worte gewesen?«
»Er hat es gesagt, ganz bestimmt«, versicherte John und sah seinem Cousin in die Augen.
Rob wandte sich den drei anderen Männern zu, die stumm geblieben waren. Marions Verstand kam langsam wieder in Gang, und neue Hoffnung belebte ihr Gesicht ein wenig.
»Wir könnten versuchen, uns das Dokument zurückzuholen. Ich kenne mich im Schloss gut aus, und…«
»Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du noch einmal dorthin gehst«, schaltete sich Duncan ein.
Sie fuhr herum und starrte ihn aufgebracht an.
»Jedenfalls nicht allein«, setzte er hinzu und hielt ihrem Blick stand.
»Und wenn wir Argyles Sohn entführen und ihn zwingen, uns das Schreiben zurückzugeben?«, meinte Colin ganz trocken.
Rob grummelte etwas und ließ sich das Problem durch den Kopf gehen.
»Hmmm… Das wäre eine Lösung. Aber es ist nicht so einfach, an den Sohn des Duke heranzukommen. Er hält sich in Stirling auf, als Adjutant seines Vaters. Und nach den letzten Nachrichten, die ich erhalten habe, hat sich Argyles Truppenstärke beträchtlich erhöht. Das wäre sehr gefährlich.«
»Wir müssen es versuchen«, sagte Colin.
»Ich habe eine bessere Idee«, warf Marion ein. »Wie wäre es, wenn wir versuchen, ihn stattdessen zu uns zu holen? John könnte ihn unter einem Vorwand hierherlocken. Argyles Sohn wird dem Mann, der so feige seine eigenen Leute verraten hat, nicht misstrauen.«
Alle sahen jetzt John an, der entsetzt zurückstarrte. Rob lächelte verhalten.
»Warum eigentlich nicht?«
18
Die Aufforderung
Zum hundertsten Mal warf sich Duncan auf dem Strohsack herum, den man ihm in einem der leerstehenden Zimmer auf Chesthill zugewiesen hatte. Doch der Schlaf mochte sich nicht einstellen. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. In dem Mondlicht, das durch das vorhanglose Fenster einfiel, erkannte er große, helle, rechteckige Stellen an den dunklen, kalten Mauern, die nur mit Holztäfelungen geschmückt waren. Dort mussten einmal Bilder gehangen haben. Leere Regale, die zu beiden Seiten des Kamins eingelassen waren und sich an einem Teil der angrenzenden Wände fortsetzten, wiesen darauf hin, dass dieser Raum einst eine Bibliothek gewesen war, die wahrscheinlich kostbare Bände enthalten hatte. Marion hatte diesen Raum zu ihren Lebzeiten sicherlich nicht mehr vollständig eingerichtet gesehen. Die wenigen Möbel, die der Laird von Glenlyon noch besaß, und alles andere, was er nicht verkauft hatte, um seine Schulden zurückzuzahlen, oder was nicht bei Überfällen geraubt worden war, befand sich zusammengedrängt in nur vier Zimmern im Erdgeschoss und einigen Räumen im oberen Stockwerk.
Der junge Mann schloss die Augen und versuchte sich Marions Zimmer vorzustellen. Bestimmt war es nüchtern ausgestattet, vielleicht sogar karg wie eine Kosterzelle. Ein Bett, eine Kommode, ein oder zwei Stühle. Ein Schreibtisch? Ganz sicher nicht. Was sie wohl tat, wenn sie sich dorthin flüchtete? Betrachtete sie sich in einem großen venezianischen Spiegel? Stöberte sie in einem großen Schrank, der voll mit bestickten Unterröcken aus ägyptischer Baumwolle und Hemden aus feinem Batist war, die mit französischen Spitzen geschmückt waren, wie er sie bei den
schönen Ladys in Edinburgh gesehen hatte? Ob sie wohl Perlen aus dem Orient und feine Silberbroschen aus Spanien besaß? Nein, ganz gewiss nicht. Doch es wäre ihr Zimmer, in dem ihre Gegenwart, ihr Duft zu spüren sein mussten …
Mit einem Mal fühlte er sich sehr unwohl; in diesem Haus, in diesem Tal gab es keinen Platz für ihn. Er machte seinen Clan nicht für die Lage der Campbells verantwortlich: Sie hatten ihr Schicksal selbst verschuldet. Doch irgendetwas, das er nicht genau bestimmen konnte, rief dieses ungute Gefühl hervor.
Hier war er der Fuchs im Hühnerstall. Doch er fühlte sich eher wie ein Lamm in der Höhle des Löwen.
Das Übel, das hier seit Generationen die Seelen zerfraß, saß tief. Gleichzeitig mit dem Gehen und Sprechen lehrten die Eltern ihre Kinder den Hass. Und diese handelten als Erwachsene genauso an ihren eigenen Kindern, ohne sich Fragen zu stellen. So wurden Hass und Rachedurst zum Lebenssinn.
Dieser Gedanke drückte Duncan nieder. Hier in den Highlands lag der Hass in der Luft wie der Duft des Heidekrauts. All
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