Lanze und Rose
Ebene, auf der es nur den Tod gab, und die grauenerfüllten Blicke von Männern, die er selbst gefällt hatte. Dann tröstete ihn Marions Gegenwart. Er betrachtete das einzigartige Gesicht der jungen Frau,
herzförmig, von perlmuttfarbenem Teint und von einer Aureole aus feuerrotem Haar umgeben. M’aingeal dhiabhluidh … Ja, so sah er sie seit dem ersten Tag. Ein teuflischer Engel. Ein süßes Lächeln und eine scharfe Zunge; ein argloser Blick und dahinter ein gewitzter Verstand. Rätselhaft. Wer genau bist du wirklich, Marion Campbell?
Von neuem krächzte der Rabe und riss ihn aus seinen Gedanken. Er ließ noch einmal die Ereignisse des Vortages an sich vorüberziehen. Das Dokument musste sich inzwischen auf Finlarig befinden, wo es sicher unter Verschluss sein würde. Dem falschen Spiel von Argyles Sohn zum Trotz hatten sie Erfolg gehabt. Jetzt konnte Marion ruhig in seinen Armen schlafen. Nach ihrem Missgeschick auf der Straße zur Taverne hatten sie Macgregor und seine Männer vor einem Krug Bier sitzend angetroffen. Zur großen Erleichterung aller war damit die Sache geregelt gewesen. Rob hatte es übernommen, das Dokument zurück zu Breadalbane und damit in Sicherheit zu bringen.
Nach einer guten Mahlzeit hatte er Marion mit in sein Tal genommen, in das Haus, das er sich an der Flanke des Aonach Eagach, nicht weit von Loch Achtriochtan, erbaut hatte. Gewiss, seine Kate war klein. Doch sobald es Frühling wurde, konnte er jederzeit eine richtige Küche mit einem Ofen zum Brotbacken anbauen und einen Unterstand für die Tiere schaffen. Sie waren in den frühen Morgenstunden eingetroffen. In dem Haus, das unter einer dicken Schneeschicht lag, war es eiskalt gewesen. Doch nachdem sie Feuer gemacht hatten und in das kalte Bett gekrochen waren, hatten sie sich rasch aneinander aufgewärmt. Und langsam hatte ihre Leidenschaft auch die Temperatur im Zimmer steigen lassen. Schon bei der Erinnerung an ihre Umarmungen schlug sein Puls schneller. Marion, wie sie unter ihm bebte; wie sie vor Lust keuchte und ihr Atem als feine weiße Wolke in die Luft aufstieg.
Er war sich sicher, dass sie diese Gegend lieben würde. Selbst empfand er seit jeher so. Als er klein gewesen war, hatte sein Vater ihn und seinen Bruder oft mit hierher zum Baden genommen. Etwas später, als Frances alt genug gewesen war, hatten sie
sich hier zu dritt amüsiert und geangelt. Er lächelte bei der Erinnerung. Wenn sich die Angelschnur seiner Schwester spannte, hatten Ranald und er sich ein boshaftes Vergnügen daraus gemacht, ihr zu erzählen, dass das Each Uisge 38 an ihrem Köder angebissen hätte, und die Kleine hatte vor Angst geweint. Wenn sie ihre Schnur einholte, dann würde das Wasserpferd sie holen kommen und mit sich in die Tiefen des Loch nehmen, von wo sie nie wieder zurückkehren würde. Unweigerlich war sie dann Hals über Kopf in Richtung Dorf geflüchtet und hatte den Jungen ihren Fang überlassen.
Nun würde er nie wieder mit Ranald fischen gehen. Sein Bruder und seine scherzhaften Bemerkungen fehlten ihm schrecklich. Durch den Aufstand und all die Ereignisse, die ihn beschäftigt hatten, war ihm noch gar nicht ganz klar geworden, welche Lücke sein Bruder hinterlassen hatte. Doch jetzt, da er wieder daheim in Glencoe war …
Mit einem Blick umfasste er den einzigen Raum seiner bescheidenen Wohnstätte. Die aus Stein errichteten Mauern waren mit Torf und Strohleim abgedichtet. In der Vorderfront befanden sich zwei Fenster. Im Moment wurden sie nur mit Tierhäuten und Läden aus Holz geschlossen, doch er nahm sich vor, für Marion Glasfenster einzubauen. Immerhin hatte er sich einen richtigen Kamin konstruiert, statt der lästigen Feuerstelle in der Mitte, die das ganze Haus mit Rauch erfüllte. Deckenbalken aus Baumstämmen, die er sorgfältig um ihrer Form willen ausgewählt hatte, trugen das Dach aus Heidestroh, das den ganzen Sommer über getrocknet war, und waren mit kräftigen Hanfstricken befestigt. Sein Haus war kein Schloss und konnte sich auch nicht mit dem Herrenhaus von Glenlyon vergleichen. Doch es war solide gebaut und gewährte ihnen eine Zuflucht, um zu schlafen und sich zu lieben.
Der nächste Nachbar lebte mehr als eine Meile entfernt, in Achnacone. Duncans Bedürfnis nach Einsamkeit, ein von seinem Vater ererbter Charakterzug, hatte ihn bewogen, sich diese Stelle auszusuchen. Ranald, der in Jenny verliebt gewesen war,
hatte im nächsten Frühling mit dem Bau seines eigenen Hauses beginnen wollen …
Duncan
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