Lanze und Rose
teilen.«
»Ach! Geh doch zum Teufel, Willie, und liege mir nicht ständig damit in den Ohren! Da wird noch viel Wasser unter meinen Füßen hindurchfließen, bevor man mich fängt und ins Loch steckt!«
»Rede nur, mein Alter! Such uns lieber eine Flasche, dann teilen wir sie uns.«
Die zweite Seemann grummelte frustriert. Dann trat ein drückendes Schweigen ein. Der vierte Wachposten hatte immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben. Die Männer im Boot warfen sich vielsagende Blicke zu; dann flog ein weiteres Mal der Enterhaken durch die Luft. Dieses Mal fand er festen Halt in einer Tausprosse der Wanten. Die geschwärzten Gesichter der Männer verzogen sich zu einem Lächeln. Nur Marion saß reglos da, vor Angst wie versteinert.
Der Mann mit dem Wurfhaken packte das Tau, schwang sich auf die Wanten und kauerte sich hinter der Reling nieder. Macnab folgte ihm unmittelbar darauf, und dann kam James Mor. Blieb nur noch Duncan übrig, der jetzt das Seil des Enterhakens sicher an einem Metallring am Bug des Bootes festzurrte. Er kauerte sich vor Marion.
»Leg dich auf den Boden«, flüsterte er ihr ins Ohr, wobei er mit den Lippen leicht ihre Haut streifte.
Die junge Frau erstarrte und klammerte sich an sein Hemd.
»Und was soll ich machen, wenn dir … ähem … euch etwas zustößt?«, stotterte sie panisch.
Ohne es zu wollen, kniff sie ihm durch den Stoff in die Haut. Ihr Blick löste sich von seinen Augen und glitt zur Reling hinauf. Marions Gesicht befand sich kaum einen oder zwei Zoll von seinem entfernt. Er hob den Arm, streckte die Finger nach dem blassen Gesicht aus und wagte es, ihr leicht über die Wange zu streichen.
»Wärest du denn sehr traurig darüber?«
Ein sanfter Duft nach Ozean und Algen ging von ihr aus und mischte sich mit ihrem leicht süßlichen Atem, den er auf seiner
Wange spüren konnte. Er lächelte ihr zu. Mit einem Mal jedoch presste Marion die zitternden Lippen zusammen, und ihr Blick verhärtete sich. Langsam glitten Duncans Finger von ihrer seidigen Haut und fuhren in ihre ebenso weichen Haare, die zwischen ihnen hindurchglitten.
»Vergiss nicht, dass du mich noch zu Breadalbane bringen musst, Macdonald.«
Duncan lächelte. Er roch an der Haarsträhne, die er immer noch in der Hand hielt, und zog mit der anderen Hand den Sgian dhu aus Marions Stiefel, wobei er unbeabsichtigt ihr Knie streifte. Sie fuhr zusammen, nahm ihr Bein aber nicht weg.
»Wie könnte ich das vergessen?«
Sie schluckte und schloss kurz die Augen. Ein bisher nie gekanntes Gefühl stieg in ihr auf und ließ sie erbeben; so wie damals auf der Heide, vor einigen Wochen, als er ihr diesen Kuss gestohlen hatte… Metall berührte warm und fest ihre Handfläche, und sie kehrte in die Gegenwart zurück. Duncan hatte ihr den Dolch in die Hand gelegt.
»Ich bezweifle nicht, dass du dich der Waffe ebenso gut zu bedienen weißt wie deiner Zunge, doch ich hoffe, dass du es nicht zu tun brauchst.«
Er ließ Marions Haar los und zog sich vorsichtig zurück. Die junge Frau spürte, wie die Panik sie überwältigte, und vergrub noch fester als zuvor die Hände in seinem Hemdstoff.
»Sei … vorsichtig …«
Duncan antwortete nichts, sondern senkte nur den Blick auf den Mund der jungen Frau. Er musste sich gewaltsam Einhalt gebieten, um sich nicht ihrer Lippen zu bemächtigen. Aber dies war wahrhaftig nicht der richtige Moment dazu. Die anderen warteten auf ihn. Daher gab er sich damit zufrieden zu lächeln, dann befreite er sich aus Marions Griff und kletterte ebenfalls in die Wanten.
Er erreichte die Reling, hievte sich lautlos hinüber und ging sofort hinter einem leichten Artilleriegeschütz in Deckung. Die drei anderen Männer folgten ihm. Der Wachposten am Bug wandte ihnen den Rücken zu. Das musste Willie sein , dachte Duncan. Der zweite Posten war nicht zu sehen. Wahrscheinlich stöberte er irgendwo
im unteren Deck herum, auf der Suche nach einer Flasche Branntwein.
Duncan schob sich langsam auf die Steuerbord-Batterie zu. Die vier Piraten tauschten Blicke und gelangten zu einem lautlosen Einverständnis. James Mor huschte wie ein Schatten von einer Kanone zur anderen und näherte sich so dem ahnungslosen Seemann, der sich immer noch über die Brüstung beugte. Dann stürzte er los. Der Mann hatte gerade noch Zeit, sich umzudrehen; auf seinem mageren, wettergegerbten Gesicht malten sich Verblüffung und Entsetzen. Sein Schrei jedoch drang niemals über seine Lippen, die sich jetzt grauenhaft
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