Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
Schüsse hatten Eis und Geröll
vor den Höhleneingang stürzen lassen und ihn sicher verschlossen. Diese Toten
würde man erst irgendwann in der nächsten Eiszeit finden.
„Irgendwas Neues von Gideon zu Phase zwei dieser
Operation?“, fragte Tegan Chase, der ihre heutige Aktion in der Stadt
koordinierte.
„Alles klar“, antwortete Chase. „Gideon hat mit
einem gewissen Sidney Charles gesprochen, dem Bürgermeister von Harmony, und
ihn darüber informiert, dass die Einheit der Staatspolizei aus Fairbanks in
weniger als einer Stunde hier eintrifft, um mit den versammelten Stadtbewohnern
zu reden und Aussagen aufzunehmen.“
„Und der gute Bürgermeister ist natürlich
kooperativ?“
Chase nickte. „Er hat Gideon erklärt, er werde
persönlich dafür sorgen, dass jeder Bürger der Stadt zur Verfügung steht. Sie
versammeln sich gerade in der Kirche von Harmony und warten auf uns.“
Tegan kicherte in sich hinein. „Also, was steht an?
Einbruch, Vernichtung von Beweismitteln, Manipulation eines Tatorts,
Amtsanmaßung, auf einen Schlag das Gedächtnis von hundert Menschen löschen, und
das alles vor dem ersten Tageslicht ...“
Chase grinste. „Reine Routine.“
Kade war nicht sicher, ob er in der Kapelle
willkommen war, wo sich alle Bewohner des Dunklen Hafens eingefunden hatten, um
Seth in den letzten verbleibenden Minuten vor Tagesanbruch Lebewohl zu sagen.
Er hatte vorgehabt, dem verdammten Ritual komplett fernzubleiben. Aber als es
immer näher auf die Mittagsstunde zuging, in der die Wintersonne kurz herauskommen
würde, tigerte er in seiner Unterkunft vor Alex herum wie ein eingesperrtes
Tier. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
„Ich muss dahin“, platzte er heraus und blieb vor
Alex stehen, die auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Hütte saß. „Egal, ob sie
meinen, dass ich dazugehöre oder nicht, ich muss dort sein. Für Seth. Und für
mich auch. Verdammt, sie sollen alle hören, was ich zu sagen habe.“
Er stürmte aus der Hütte und lief über den
gefrorenen Boden zur Kapelle. Der bläuliche, vom bevorstehenden Sonnenaufgang
beleuchtete Schnee knirschte bei jedem Schritt unter seinen Stiefelsohlen.
Die Fensterläden des kleinen Holzgebäudes waren zum
Schutz vor dem bevorstehenden Tagesanbruch schon fest verschlossen. Im
Näherkommen vernahm Kade von drinnen Stimmengemurmel, die leisen Gebete wurden
immer wieder von Trauerlauten unterbrochen.
Noch bevor er die Türklinke drückte, konnte er den
Paraffingeruch der acht Kerzen riechen, die auf dem Altar brannten, und den
angenehmen Duft des parfümierten Öls, mit dem man Seth in Vorbereitung für den
Unendlichkeitsritus gesalbt hatte.
Acht Unzen Öl, um ihn reinzuwaschen und zu segnen.
Acht Lagen blütenweiße Seide, um ihn zu verhüllen, bevor sein Körper der Sonne
übergeben wurde.
Acht Minuten versengende, ultraviolette
Sonnenstrahlung für denjenigen, der unter den Lebenden ausgewählt würde, um
Seth in den letzten Augenblicken seiner Beisetzung zu begleiten.
„Scheiße“, flüsterte Kade und blieb vor der Kapelle
stehen, als ihm die Realität des Ganzen aufging.
Sein Bruder war tot.
Seine Familie trauerte.
Und Kade fühlte sich dafür verantwortlich.
Er öffnete die Tür der Kapelle und trat ein. Fast
alle Köpfe schnellten zu ihm herum, manche sahen ihn mitleidig an, andere
starrten ihn an wie den Fremden, der er in seinem Jahr beim Orden geworden war.
Alle in der Kapelle waren dem Anlass entsprechend
gekleidet: Die Frauen trugen schwarze Kleider und Schleier, die Männer lange
schwarze Gewänder mit Gürtel. Seine Eltern entdeckte er in der ersten
Bankreihe. Sie standen neben Maksim und Patrice, allesamt in Schwarz und mit
erschütterten, blassen Gesichtern, die Augen vor Kummer rot gerändert und
feucht. Hätte Seth Patrice zu seiner Gefährtin gemacht, hätte sie als seine
Witwe zum Zeichen ihrer Blutsverbindung einen scharlachroten Schleier getragen,
sich auf die Lippen gebissen und auf seinem in weiße Seide gehüllten Körper auf
dem Altar als letztes Lebewohl ein einzelnes blutrotes Kussmal hinterlassen.
Als Kade so über die feierlichen Traditionen seiner
Spezies nachdachte, musste er an Alex denken. Er konnte das Aufblitzen einer
Zukunftsvision nicht unterdrücken, in der er auf dem
Beerdigungsaltar lag, mit einem verwandelten, von Blutgier gezeichneten Gesicht
unter der weißen Seide wie Seth. Würde Alex ihn dann noch lieben?
Konnte er, nach allem, was sie über ihn wusste,
wirklich von ihr
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