Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
eingetreten war und nun in der Nähe der
geschlossenen Türen stand. Sie sah ihn unverwandt an, liebevoll und lest
zugleich, und nickte ihm unmerklich zu.
Und das war die einzige Zustimmung, die in diesem
Raum Bedeutung für ihn hatte.
„Mein Bruder war nicht gesund“, erklärte er der
schweigenden Versammlung.
„Seit wir klein waren, hatten wir mit unserer
angeborenen Fähigkeit zu kämpfen. Bei jemandem wie dir, Mutter“, sagte er und
sah sie an, als er von der ungewöhnlichen Gabe sprach, die sie von ihr geerbt
hatten, „ist sie vielleicht eine Stärke. Für Seth und mich ist sie zum Fluch
geworden. Es war einfach zu viel Macht für zwei dumme Jungs, die zu arrogant
und zu naiv waren, um ihre Konsequenzen zu erkennen. Wir haben die Gabe, die
wir von dir geerbt haben, missbraucht. Am Anfang war es nur ein Spiel für uns,
mit einem Wolfsrudel durch die Wälder zu rennen, mit ihm zu jagen ... und zu
töten. Wir haben uns von dieser Wildheit beherrschen lassen. Und irgendwann
habe ich gemerkt, dass Seth nicht mehr aufhören konnte.“
„Oh, mein Sohn.“ Sie rang nach Luft. „Es tut mir ja
so leid. Ich hatte keine Ahnung ...“
„Ich weiß“, unterbrach er sie, bevor sie noch mehr
Schuld auf sich nahm, die sie nicht traf. „Keiner wusste etwas davon. Es war
falsch von Seth und mir, es vor euch geheim zu halten. Und als ich letztes Jahr
aus Alaska wegging, habe ich alles noch schlimmer gemacht.“
Kirs Miene verfinsterte sich noch mehr. „Schlimmer?
Inwiefern?“
„Seth hat einen Menschen umgebracht.“ Kade
ignorierte das entsetzte Aufkeuchen, das durch die Trauergemeinde ging, und
richtete den Blick auf seinen Vater. „Er hatte getötet, und ich wusste es. Er
hat mir geschworen, dass es ein Versehen war, das sich nicht mehr wiederholen
würde. Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich wollte ihm glauben, aber dafür kannte
ich meinen Bruder zu gut. Damals hätte ich etwas unternehmen müssen. Irgendwie
dafür sorgen, dass er es nicht wieder tut. Stattdessen bin ich gegangen.“
Schweigen senkte sich über den Raum, nachdem Kade
geendet hatte. Es dehnte sich endlos aus und legte sich ihm wie eine kalte Last
auf die Schultern, während er dem schwer zu deutenden Blick seines Vaters
standhielt. Kades Mutter versuchte, die schreckliche Stille zu brechen.
„Du musstest gehen, Kade. Der Orden in Boston hat
deine Hilfe gebraucht. Du hattest dort wichtige Aufgaben zu erledigen ...“
„Nein“, widersprach Kade mit einem langsamen
Kopfschütteln. „Ich war froh, dem Orden beizutreten, aber deshalb bin ich nicht
fortgegangen. Jedenfalls nicht in Wahrheit. Ich bin aus Alaska weg, weil ich
Angst hatte, genauso zu werden wie Seth. Ich habe meinen Bruder und euch alle
im Stich gelassen, um mich selbst zu retten. Ich bin aus rein egoistischen
Gründen nach Boston geflüchtet. Das war keine Ehrentat.“
Er sah ans andere Ende der Kapelle zu Alex, und
ihre Blicke trafen sich. Sie hörte ihm zu, ohne zu urteilen. Das einzige
Augenpaar im Raum, das ihn nicht mit Verachtung oder ungläubigem Erstaunen
anstarrte.
„Was Seth getan hat, war falsch“, fuhr er fort. „Er
war krank, vielleicht war ihm auch schon nicht mehr zu helfen, noch bevor seine
Schwäche ihn zum Rogue werden ließ. Aber er ist trotz allem ehrenvoll
gestorben. Denn nur, weil Seth vor ein paar Stunden sein Leben geopfert hat,
bin ich noch am Leben.
Aber was noch mehr zählt - am Eingang dieses Raums
steht eine schöne, außergewöhnliche Frau. Auch sie lebt nur noch wegen Seths
Einsatz in den letzten Minuten seines Lebens.“
Geschlossen drehte sich die Trauergesellschaft nach
Alex um. Trotz dieser plötzlichen Aufmerksamkeit und dem einsetzenden
neugierigen Getuschel blieb sie völlig ruhig.
„Seth war nicht perfekt“, sagte Kade. „Und ich
werde es weiß Gott auch nie sein. Aber ich habe meinen Bruder geliebt. Und ich
schulde ihm alles für das, was er heute getan hat.“
„Du machst ihm alle Ehre“, murmelte eine
Männerstimme irgendwo links von Kade. Er warf einen Blick dorthin und sah
Maksim, der aufgestanden war. Er nickte feierlich. „Du machst uns allen heute
alle Ehre, Kade.“
Das Lob seines Onkels - seines Freundes - kam
unerwartet und schnürte Kade die Kehle zu. Dann erhob sich weiteres
zustimmendes Gemurmel im Raum.
Kir trat einen Schritt vor und legte Kade die Hand
auf die Schulter. „Es ist Zeit.
Gleich ist Tagesanbruch, und ich muss Seth in die
Sonne bringen.“
Kade schloss die Finger um das dicke, starke
Handgelenk
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