Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
verlangen, ihn zu lieben? Konnte er, nach allem, was sie in
den letzten Stunden gesehen und gehört hatte, erwarten, jemals wieder ihr
Vertrauen und ihre Zuneigung zu erringen?
Und was war eigentlich mit den Leuten, die in
dieser Kapelle versammelt waren? Würde seine Familie nicht nur noch reine
Verachtung für ihn empfinden, wenn er erst einmal gesagt hatte, was er sagen
musste?
Kade wusste es nicht. Und im Moment war ihm das
auch verdammt egal. Er ging zum Mittelgang der Kapelle, und ihm war klar, wie
deplatziert er in seiner lädierten, blutverspritzten schwarzen Kampfmontur
aussehen musste. Die Pistolen und Klingen an seinem Gürtel klirrten, und seine
dicken, genagelten Stiefelsohlen hallten dumpf auf dem polierten Holzboden.
Die Miene seines Vaters verfinsterte sich, als Kade
in der Kapelle nach vorn ging. Aus den Bankreihen, an denen er vorbeikam, hörte
er leise gemurmelte Gebete und geflüsterte Loblieder auf seinen Bruder.
„Immer so ein charmanter Junge, nicht wahr?“,
erinnerte sich jemand mit kaum hörbarer Stimme. „Wie tragisch, dass gerade ihm
so etwas passieren musste.“
„Seth war der Fleißigere und
Verantwortungsbewusstere“, verkündete ein anderes Wispern. „Eines Tages hätte
er sich bestimmt ausgezeichnet als Leiter eines Dunklen Hafens gemacht.“
„Armer Kir, arme Victoria, sie müssen untröstlich
sein“, bemerkte ein weiterer Trauergast mit gesenkter Stimme, sodass
Kade die Worte im Vorbeigehen kaum verstehen
konnte. „Hätte sich jemand vorstellen können, dass ausgerechnet Seth zum Rogue
mutiert? Was für ein Jammer und was für eine Enttäuschung für seine Familie.“
„Kir weigert sich, darüber zu sprechen“, kam eine
gedämpfte Erwiderung. „Es hieß, er schämt sich so, dass er niemand in die Nähe
der Leiche gelassen hat, seit Kade sie heimgebracht hat.“
„Stimmt“, mischte sich jemand anders vertraulich
ein. „Wenn Victoria nicht so darauf bestanden hätte, würde Kir überhaupt keine
Bestattungszeremonie abhalten. Anscheinend würde er Seth am liebsten einfach
ausradieren, als hätte es ihn nie gegeben.“
Kade auf seinem Gang zum Altar im vorderen Teil der
Kapelle ignorierte die leisen Mutmaßungen hinter sich. Die Scham und die
Missbilligung seines Vaters überraschten ihn nicht. Kir, selbst streng mustergültig
und von eiserner Disziplin, hätte niemals einen Rogue in seiner Familie
toleriert, geschweige denn offen zugegeben, dass sein Lieblingssohn der
Blutgier verfallen war.
Kade schämte sich auch, aber weniger für die
Schwäche und die unverzeihlichen Untaten seines Bruders als für sein eigenes
Versäumnis, Seth dabei zu helfen, sein Leben zu ändern, bevor es zu spät war.
„Dieser Augenblick gehört meinem Bruder“, begann er
zu der Versammlung aus Angehörigen und den übrigen Bewohnern des Dunklen Hafens
zu sprechen. „Ich will Seth nicht auch nur eine Sekunde davon stehlen, aber es
gibt ein paar Dinge, die ihr alle erfahren solltet. Die ihr alle verstehen
müsst, bevor ihr ihn verurteilt für das, was aus ihm geworden ist.“
„Setz dich hin, Kade.“ Die Stimme seines Vaters war
leise und monoton, aber seine Augen blitzten gebieterisch. „Das ist weder die
rechte Zeit noch der rechte Ort.“
Kade nickte. „Ich weiß. Ich hätte schon verdammt
viel früher den Mund aufmachen müssen. Dann hätte mein Bruder vielleicht eine
Chance gehabt.
Und wäre vielleicht nicht tot.“
Sein Vater erhob sich von seinem Platz und trat aus
der Bank. „Nichts, was du sagst, wird irgendetwas ändern. Also halt den Mund,
junge. Lass es sein.“
„Ich kann nicht“, sagte Kade. „Ich trage Seths
Geheimnis schon viel zu lang mit mir herum. Und meine eigenen auch. Es ist
höchste Zeit, dass ich sie loswerde.“
Kades Mutter blinzelte einen neuerlichen
Tränenausbruch fort, eine ihrer schlanken Hände schützend auf ihren gewölbten
Bauch gelegt, in dem ein weiteres Zwillingspärchen heranwuchs. „Wovon redest
du? Was für Geheimnisse, Kade? Bitte ... ich will es wissen.“
Er sah am missbilligenden Funkeln seines Vaters
vorbei in die flehenden, feuchten Augen seiner sanftmütigen Mutter. Vielleicht
würde das, was er hier vor all diesen Zeugen zu sagen hatte, eines Tages den
Zwillingen helfen, die schon bald mit der gleichen Gabe zur Welt kommen würden
- dem gleichen verführerischen, wilden Ruf in sich - wie er und Seth.
Und dann war plötzlich Alex da.
Kades Blick wanderte ans andere Ende der
überfüllten Kapelle, wo sie leise
Weitere Kostenlose Bücher