Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
Maße aufzuwerten. Galten Lack, Latex und Piercings in den siebziger Jahren als Markenzeichen eines suspekten sexuellen Untergrunds, so eroberten diese Insignien bizarrer Erotik dank Punk, Haute Couture und Love Parade ein Massenpublikum. Talkshows präsentierten Varianten der S/M-und Fetischsexualität bevorzugt als postmoderne Freakshow. Heute füllen Latex-Korsagen die Dessousabteilungen großer Kaufhäuser und die Plakatwerbung der Marke Camel. Die Massenakzeptanz verschob die Moralgrenzen hin zu mehr Toleranz, doch die privaten Erfahrungen von Dominas und ihren devoten Kunden zeigen auch, daß diese Liberalität sich vielfach in Lippenbekenntnissen erschöpft.
Der Konsumismus mag die Gesellschaft von Moralfesseln befreit und sexuell gelockert haben. Doch das Streben nach vielschichtigen sexuellen Erfahrungen steht nicht unbedingt im Dienst der Selbsterkenntnis oder der Befreiung unterdrückter sexueller Neigungen, sondern trendbewußter Zeitgenossen und deren fetischhafter Obsession mit Identitäten, die sich über den Konsum sexueller Erfahrungen vermitteln. Sex-Appeal wird an ein Regelwerk ästhetischer Normen und sozialer Rituale gekoppelt, deren psychosexuelle Folgen in ihrem völligen Ausmaß noch gar nicht absehbar sind. Fest steht aber, daß die Rituale des Körperkults die Psyche in einer Weise deformieren können, die bestenfalls die Lebensqualität einschränkt und - worst case scenario - das Leben selbst bedroht. Bereits jetzt reagiert jede vierte Frau mit Eßstörungen auf totalitäre Schönheitsideale, viele ältere Frauen leiden unter Formen sexueller Lustlosigkeit, die sich Sexualmedizinern zufolge nicht allein aus einem (post)menopausalen Hormonstatus ableiten lassen. Immer mehr Männer verweigern sich Ritualen des Kennenlernens, in denen sie auf ihre Konto-und Besitzstände abgefragt werden. Anstatt sich Sex zu erkämpfen, erschwindeln oder erkaufen sie ihn sich lieber. Die befreienden Botschaften der sexuellen Revolution sind einem oberflächlichen, oft autoritären und letztlich inhumanen Verständnis von Erotik gewichen. Die moralische Repression der Sexualität von einst lebt weiter im Selbsthaß all jener, die sich in den Hochglanzwelten der Lifestyle -Magazine nicht wiederfinden.
Einzig die Sexindustrie geht aus den neuen Frontlinien als Gewinnerin hervor. Ihre Innovationen, Produkte, Dienstleistungen und Markennamen füllen einerseits die Seiten und Sendeminuten der Medien und trösten andererseits diejenigen, die den gängigen Sex-Appeal-Standards nicht entsprechen oder durch den Kriterienraster anspruchsvoller Partnersuche gefallen sind. Doch zum Erfüllungsgehilfen der Lifestyle -Diktatur eignet sich die Sexindustrie nur bedingt. Zu klar und eindeutig orientiert sie sich an den sexuellen Bedürfnissen ihrer Kunden: Erfolgreiche Pornoproduzenten bedienen ein pluralistisches Spektrum individueller sexueller Vorlieben, mit Akteuren, die mehr an Menschen von nebenan erinnern als an unerreichbare Traumpartner, mit Inhalten, die an psychische Dispositionen und nicht an sozioökonomische Statuswünsche appellieren. Daß Sex weder mit Schönheit noch mit Wohlstand verwechselt wird, dürfte ein Erfolgsgeheimnis dieser Branche sein, die in den letzten zwei Jahrzehnten in nie gekannter Weise boomte.
Andererseits wecken sexuelle Waren und Dienstleistungen Begehrlichkeiten, die mit den monogamen Ansprüchen vieler Paarbeziehungen über Kreuz liegen. Jedes Video, jeder Artikel, jede Fernsehreportage über das kommerzialisierte Reich der Sinne stärken das Bewußtsein dafür, daß außerhalb des privaten Beziehungskosmos zahlreiche interessante Möglichkeiten und Versuchungen lauern.
Selbst wenn diese Kelche ungenutzt vorüberziehen, wirken sie in die Beziehung hinein, eigene Bedürfnisse und Befindlichkeiten werden überprüft und an den ungelebten Möglichkeiten gemessen. Sexuelle Frustrationen, gestiegene Ansprüche an die partnerschaftliche Sexualität können das eigene Wohlbefinden, die Monogamie oder die Beziehung in Frage stellen. Sexuelle Entbehrung oder Routine im Namen von Treue, Pflichtbewußtsein und Familienwerten konkurrieren mit den Möglichkeiten eines ausschweifenden Hedonismus, der gezielt an die autonomen Seiten der Lust appelliert.
Vorprogrammiert sind Treuekonflikte.
Einem modernen Zeitgeist verpflichtet, kennt die Lifestyle -
Sexualität keine traditionelle Doppelmoral, sondern einzig Konsumenten. Ob mehr Männer als Frauen promisk leben, ist sekundär - Hauptsache, die
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