Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland

Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland

Titel: Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara Domentat
Vom Netzwerk:
selten innerlich zerreißt.
     
    Erschwerend kommt das Tabu hinzu, das es bis vor kurzem noch unmöglich machte, über sexuelle Angelegenheiten halbwegs offen, klischeefrei und mit einem gewissen Grad an Selbstreflexion zu sprechen. Verglichen mit dieser über Jahrhunderte gewachsenen Mauer des Schweigens, ist die Sexualisierung unserer Gesellschaft ein relativ junges Phänomen. Als Hypothek unserer jüdisch-christlichen Kulturtradition tragen wir
    unter der Oberfläche eines
    aufgeschlossenen Zeitgeistes ein jahrhundertealtes Sex-Tabu mit uns herum. Zwar ist das Liebesgebot zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens, doch diese Art der Liebe hat mit Sexualität nicht das geringste zu tun - auch wenn sich im Alten Testament bisweilen recht unbeschwerte Anspielungen auf die erotische Sinnenfreude finden, wie zum Beispiel im Hohelied der Liebe. Die Helden des Christentums sind asexuell, und es überwiegen die Botschaften, die die sexuelle Lust als sündhaft ächten und verteufeln. Einige Religionswissenschaftler sehen das lustfeindliche Erbe der jüdisch-christlichen Tradition nicht nur in der Auslegung der christlichen Lehre durch weltfremde Kirchenväter, sondern als genuines Element in der biblischen Theologie verankert.64 Demnach setzt die Trennung zwischen Religion und Erotik nicht erst im 19. Jahrhundert ein, sondern ist bereits in der Bibel angelegt. Die körperliche Liebe hatte sich einer in geregelten sozialen Bahnen ablaufenden Reproduktion unterzuordnen, und so genoß die Ehe als einzig legitimes Dating-und-Mating-Modell den uneingeschränkten Schutz der Kirche.
    Was die Kirche begann, setzte der westeuropäische Zivilisationsprozeß im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts fort. Er verwies die Sexualität »mehr und mehr hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens und klammert sie in eine bestimmte Enklave, die Kleinfamilie, gleichsam ein«, so der Philosoph Norbert Elias. »Ganz entsprechend werden auch im Bewußtsein die Beziehungen zwischen den Geschlechtern eingeklammert, ummauert und hinter die Kulissen verlegt. Eine Aura der Peinlichkeit umgibt diese Sphären des menschlichen Lebens.«65 Abgeschirmt vor den Blicken Fremder, fristen »diese Sphären des menschlichen Lebens« in der Intimspäre des Paares nic ht unbedingt ihr leidenschaftlichstes oder ihr glücklichstes Dasein, wie Millionen gelangweilte, frustrierte oder sexuell mißbrauchte Menschen bestätigen können. Die Privatsphäre hat die Sexualität oft stärker mystifiziert als erhellt, ihr vermeintlicher Schutz verwandelte sich nicht selten in ein Gefängnis.
    Unabhängig vom Grad der partnerschaftlichen Liebe und Harmonie führt die Sexualität in vielen Ehen und Beziehungen ein veritables Schattendasein. Umfragen und Erfahrungen von Sexualberatern zeigen, daß die sexuelle Lust in der Berechenbarkeit des Beziehungsalltags immer häufiger auf der Strecke bleibt.66 Die Lustlosigkeit, vor ein bis zwei Jahrzehnten noch eine Beziehungsrealität ohne dezidierten Krankheitswert, avancierte in den neunziger Jahren zur sexuellen Funktionsstörung Nr. 1. Egal, wie man die Proble -matisierung der sexuellen Lustlosigkeit bewertet - ihre Existenz als Massenphänomen widerlegt das Klischee, daß erst eine Liebesbeziehung erfüllte Sexualität ermöglicht, vielleicht am wirkungsvollsten.
     
    Klischee Nr. 23:
    An der Lustlosigkeit in deutschen Betten
    ist die sexuelle Reizüberflutung schuld.
     
    Es ist verführerisch einfach, die sexuelle Langeweile als ein Produkt des medialen Bombardements sexueller Reize zu deuten. In der Paradoxie der »Lustlosigkeit in deutschen Betten« inmitten einer sexualisierten Gesellschaft scheinen sich die widersprüchlichen Botschaften zu offenbaren, die Beziehungs-und Lifestyle -
    Sexualitäten an ihre Adressaten richten: Folge deinen Impulsen, aber bleib treu! Leb dich aus, aber respektiere die Gefühle deines Partners!
    Doch wie soll sich die Lust authentisch auf den Partner richten, wenn in den Medien ständig von Seitensprungagenturen, erotischen Chatrooms und Swingerclubs die Rede ist?
    Diese These ignoriert jedoch etwas Wesentliches: Die sexuelle Verödung ist ein genuines Beziehungsphänomen. In außerehelichen Sexbeziehungen findet man sie nämlich weitaus seltener: Heimliche Geliebte fallen übereinander her, wenn sie sich sehen, und Prostitutionskunden zahlen keine Stundenhonorare von 100-500 DM, um mit Sexarbeiterinnen in partnerschaftlicher Idylle vorm Fernseher zu sitzen. Auch wenn Sexualität im

Weitere Kostenlose Bücher