Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
allen Kult uren hat es beziehungsorientierte und autonome Sexualitäten gegeben. Das Schwierige daran ist weder die
»Spaltung« an sich noch eine ungleiche Rollenverteilung. Schließlich überschreitet jeder treulose heterosexuelle Mann seine Beziehungsgrenzen mit einer anderen Frau. Problematisch ist allerdings der Umstand, daß ein und dasselbe Verhalten bei Männern und Frauen mit zweierlei Maß gemessen wird.
Das war nicht immer so. Glaubt man Anthropologen, so zeigt ein Blick in den Alltag der Urgesellschaften, daß es in den Steinzeithöhlen meist nicht monogamer zuging als in neuzeitlichen Swingerclubs. Selbst im Mittelalter wurden Frauen und Männer als gleichermaßen sexuell interessierte, lebenslustige und promiske Wesen wahrgenommen, wie zahllose Chronisten der Zeit überliefern.
Wie ein kollektives Flashback flackert seither immer wieder ein Bewußtsein für die grundsätzlich gleichartigen sexuellen Bedürfnisse von Männern und Frauen auf, zuletzt in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Wenn diese kurzen Phasen sexueller Gleichberechtigung bestenfalls befreiende Erinnerungsblitze an versunkene Epochen blieben, so liegt das vor allem an den traumatischen Auswirkungen der Hexenverfolgungen. An der Schwelle zur Neuzeit markieren sie eine entscheidende Wende zwischen dem ausgelassenen Treiben unserer sexhungrigen Vorfahrinnen aus dem Mittelalter und dem Bild der angepaßten, tugendhaft-keuschen und sexuell passiven Bürgersfrau, die ihre Sexualität in den Dienst der Fortpflanzung, ihr Leben in den Dienst der Familie stellt. Nachdem sich Marterblöcke, Scheiterhaufen und der Haß fanatisierter Mobs drei Jahrhunderte lang ins kollektive Bewußtsein der Frauen gebrannt hatten, wurde es zu einer Überlebensfrage, die Vorteile sexueller Autonomie gegen die Nachteile sozialer Ausgrenzung abzuwägen. Seitdem ist vor allem die Frauenwelt gespalten -in gute und in böse Mädchen.
Wurde die Zähmung sexueller Impulse für die einen zur Grundlage ihres sozialen Ansehens als treue Ehefrauen und Mütter, so fielen sexuell aktive Frauen automatisch (und oft unabhängig davon, ob sie tatsächlich Geld von ihren Sexpartnern erhielten) in die Kategorie Hure. Fanden die einen ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft, so fristeten die anderen ein bisweilen lebenslustiges, aber stigmatisiertes Dasein an der sozialen Peripherie. Wie Licht und Schatten sich gegenseitig bedingen, so basierte das Ansehen der einen auf der Abwertung der anderen. Doch nicht nur Männer profitierten von dieser oft beklagten »Spaltung« des Frauenbildes in Huren und Heilige. Die Hure entlastete und beschützte die ehrbare Frau - vor Ansehensverlusten, vorehelicher Sexualität, Schwangerschaftsängsten, sexuellen Anspruchshaltungen, Experimenten und Aktivitäten, die sie inakzeptabel fand.
In den ehrbaren Welten der Bürger löste alles, was mit Sexualität zusammenhing, zunehmend Scham-und Peinlichkeitsgefühle aus und wurde mit einem Bann des Schweigens belegt. Dabei verdrängten Männer und Frauen das Sexuelle ganz unterschiedlich: Regelmäßig beobachteten Psychoanalytiker, daß bürgerliche Frauen ihre libidinösen Energien oft bis an den Rand des Wahnsinns unterdrückten und Männer lustvolle Sexualität so stark mit Prostitution assoziierten, daß sie Sex mit Prostituierten, nicht aber mit ihren Ehefrauen genießen konnten.95 Durch diese Spaltung fand sich die Prostituierte in der zunehmend asexuellen, von Pflichterfüllung und Statusdenken durchdrungenen bürgerlichen Gesellschaft des 19.
und frühen 20. Jahrhunderts in der Rolle der Hüterin einer reinen, von der Fortpflanzung abgekoppe lten Sexualität wieder.
Die bürgerliche Gesellschaft profitierte durch dieses Arrangement, denn die Prostitution stabilisierte die Ehe gegen die bindungszersetzende Wirkung männlicher Promiskuität. Da jeder Bürger die Tugend seiner weiblichen Familienmitglieder kontrollierte, waren die Frauen und Töchter anderer Bürger für außerehelichen Sex zwangsläufig tabu. So fanden vor allem ledige, verwitwete, verstoßene Frauen oder Waisen den Weg in eine Profession, deren Marktgesetze garantierten, daß die Freier anonym blieben und alleinstehende Frauen materiell überlebten. »Geld bewegt Eigentum, das ansonsten zum Dauerbesitz einer Klasse erstarren würde«, so der Finanzexperte James Buchan. »Selbst Glücksspiel, Prostitution, Betrug, Inflation und andere Nebenwirkungen dienen letztlich diesem nützlichen sozialen
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