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Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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der ganzen Welt.
    In der Küche. Jorge und Paola. Seine Mutter wusste noch nicht, dass er wieder zu Hause war.
    Jorge hatte um zwölf Uhr nachts an ihrer Tür geklingelt. Paola wollte ihn zuerst nicht hereinlassen. Im Türspalt: dreißig Minuten Diskussion im Flüsterton. Schließlich durfte er auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Sie war immer noch sauer auf ihn.
    Und jetzt: Sie hatte gerade ihren kleinen Jungen vom Kindergarten abgeholt. Beugte sich über den Küchentisch. Jorge betrachtete sie. Ihre Augen leuchteten nicht mehr wie sonst. Ihre Lachgrübchen waren verschwunden. Stattdessen: zwei Falten, die ihre Mundwinkel nach unten zogen. Sie sah doppelt so alt aus wie damals, als sie sich zuletzt gesehen hatten. Wirkte zehnmal trauriger.
    »Ich habe immer noch keinen anständigen Job, und bald kriege ich kein Arbeitslosengeld mehr. Kapierst du, was das bedeutet? Dass ich am Existenzminimum lebe und mich ans Sozialamt wenden muss.«
    »Ich weiß, dass du es nicht leicht hast. Aber ich versprech dir, dass ich alles für euch tun werde.«
    Paola zischte: »Hör doch auf mit diesem Scheißgerede. Wenn du damit anfängst, kannst du gleich wieder gehen.«
    Er sagte nichts.
    Sie sagte nichts.
    Er schaute sich um. Auf der Arbeitsplatte: ein Sodastream, ein Wasserkocher, ein Toaster. Am Kühlschrank: die Telefonnummer der lokalen Pizzeria, Kindergartenfotos von Jorgito und selbstgemalte Bilder. Auf einem Stuhl lag ein Stapel Kleidung. Der Kühlschrank gab ein pfeifendes Geräusch von sich – er musste ausgetauscht werden.
    Sie lebte ein Neun-bis-fünf-Leben. Sie ging kein Risiko ein, hatte jahrein, jahraus ihre Steuern und die Arbeitslosenversicherung bezahlt. Aber wer kümmerte sich jetzt um sie? Das Sozialamt, mit viertausend Mäusen im Monat? Das war doch ein Witz. In solchen Situationen konnte nur die Familie aushelfen.
    Das Verrückte: Im Augenblick war Jorge neidisch auf ihr Leben.
    Er sah Bilder vor sich. Er und Paola in der Küche zu Hause in Sollentuna, als sie noch klein waren. Sie standen vor dem Toaster und warteten. Jeder hatte seine Toastscheibe hineingesteckt. Als die Scheiben hochsprangen, stürzten sie sich darauf. Rissen jeder ein Toast an sich. Rannten zurück zum Tisch, stürzten sich auf das Buttermesser, das im Butterpaket steckte. Es ging darum, wer am schnellsten war. Wer zuerst sein Toast bestrichen hatte. Das war ihr privater kleiner morgendlicher Wettbewerb. Beide wollten, dass die Butter auf ihrem Toast so stark wie nur möglich geschmolzen war.
    Jorge streckte seine Hände über den Tisch. Berührte Paolas Ellenbogen.
    »
Hermana
, ihr seid mein Ein und alles. Ich habe in der letzten Zeit so viele Fehler gemacht. Aber jetzt bin ich zurück. Ich werde alles wiedergutmachen.«
    Paola sah ihn lediglich an. Jorge konnte ihren Blick nicht deuten. War sie erneut sauer? War sie kurz davor loszuheulen? Spürte sie all die Liebe, die er empfand?
    Er musste an seine eigenen Alternativen denken. Entweder versuchte er, dem Iraner irgendein Alibi zu geben. Aber er hatte ja keine Ahnung, was Babak während der polizeilichen Vernehmung über seine Aktivitäten am Tag des Überfalls auf den Geldtransporter aussagen würde. Oder er versuchte Babak zu entlasten. Aber wie? Alleine würde er es nicht hinkriegen. Und im Augenblick waren alle seine Homies entweder im Ausland oder anständig geworden. Außer JW  – Jorge musste mit ihm reden. Möglichst bald.
    Die andere Alternative: Er schiss auf den Iraner, grub sein und Mahmuds Geld im Wald aus und flog zurück nach Thailand. Kaufte sich dort mit Hilfe von Hägerström ’n Lokal.
    Scheiße auch.
    Er bereute, dass er das Caféleben in Schweden aufgegeben hatte. Für wen hatte er sich eigentlich gehalten? Alle Leute quatschten die ganze Zeit nur rum. Wie leicht es war, Cash zu machen. Wie einfach es war, reich zu werden. Aber das kriminelle Leben war genauso kompliziert wie ’n gewöhnlicher Job. Oder noch komplizierter. Auf jeden Fall verursachte es einem mehr Kopfschmerzen und mehr Magengeschwüre.
    Es gab keinen bequemen Weg. Keinen breiten Weg. Kein
Leben deluxe
.
    Alles war eine einzige Lüge.
    Alles war zum Kotzen.
    Alle beschissen einen ein ums andere Mal.
    Er schaute hinaus: Der Wind fuhr durch die Bäume.
    In seinem Kopf STÜRMTE es.

44
    Draußen schien wie immer die Sonne. An der weißen Wand bildeten sich die quadratischen Lichtfelder der Fenster ab. Keine Bilder, keine Bücherregale, keine Gardinen. Der Einrichtung galt nicht gerade das größte

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