Lass sie bluten
sie auf den Boden vor der Rückbank.
Doch Natalie wollte raus. Goran hielt sie unten.
»Nein, Natalie. Da draußen fallen vielleicht noch mehr Schüsse. Du musst hierbleiben, deinem Vater zuliebe.«
Sie heulte. Schrie.
»Lebt er denn? Goran? Antworte doch.«
Aber Goran war nicht in der Lage zu antworten. Er hielt sie einfach nur fest. Mit einem stabilen Griff um ihren Oberkörper und die Arme. Sie versuchte zu ihm aufzusehen. Ihm in die Augen zu schauen. Sie waren weit aufgerissen. Starrten geradezu auf das Geschehen. Angespannter Blick. Und im Nachhinein wurde ihr klar, dass sie noch etwas gespürt hatte: Gorans Arme und Hände hatten gezittert. Nahezu geschlottert.
Sie warteten. Eine Minute. Vielleicht zwei Minuten. Natalie bäumte sich auf. Es gelang ihr, einen Blick durchs Wagenfenster zu erhaschen.
Stefanovic kniete neben ihrem Vater. Es sah aus, als sei er dabei, ihn zu untersuchen. Er beugte sich zu ihm hinunter. Inspizierte seine Verletzungen. Die blutigen Hände. Papa lag unbeweglich da wie eine Puppe.
Zwei Minuten.
Die Zeit war alles, was sie hatten. Warum stand sie ausgerechnet jetzt still? Warum kam keiner und half ihnen?
Sie warf sich erneut gegen die Wagentür. Inzwischen war die Kraft wieder in Gorans Arme zurückgekehrt. Sie wehrte sich. Er hielt sie zurück.
Sie musste einfach zu ihm nach draußen.
Schließlich fuhr ein Krankenwagen vor.
Zwei Sanitäter sprangen heraus und begannen mit der Arbeit. Sie beförderten Papa auf eine Trage.
Goran lockerte seinen Griff. Natalie riss die Tür auf und sprang hinaus. Papa auf der Trage. Eine orangefarbene Decke über seinem Körper. Das Gesicht unverletzt. Es sah völlig unversehrt aus. Entspannt.
Sie hob die Decke an. Überall Blut. Tastete nach seiner Hand. Goran dicht hinter ihr, seine Hand auf ihrer Schulter.
Sie beugte sich vor. Papas Bartansatz an ihrer Wange. Sie horchte. Hörte seine Atmung. Schwach. Röchelnd. Unregelmäßig.
Er lebte.
Papa lebte.
Inzwischen hatte sie erfahren, dass er in einem Krankenhaus irgendwo in Stockholm lag. Sie und Mama durften ihn nicht besuchen. Stefanovic meinte, dass der- oder diejenigen, die hinter Radovan her waren, es möglicherweise auch auf sie abgesehen hatten. Also war es das Beste, wenn sie nicht einmal wussten, wo er lag. Stefanovic äußerte immer wieder dieselben Worte: Krisensituation, es bricht eine neue Zeit an, aggressive Konkurrenten. Aber er nannte keine Details, erklärte nie, was er damit meinte. Mama nickte lediglich, schien alles hinzunehmen. Und Natalie besaß nicht die Kraft, der offenkundigen Frage nachzugehen: Was war eigentlich genau geschehen?
Nach Stefanovics Aussage war eine Kugel in Papas schutzsicherer Weste steckengeblieben. Zum Glück hatte er sie getragen. Die zweite Kugel war geradewegs durch seinen Oberschenkel hindurchgedrungen. Die dritte hatte sein Knie zertrümmert, es zwar nicht vollständig zerstört, aber stark genug in Mitleidenschaft gezogen, um ihn einige Wochen lang humpeln zu lassen. Die vierte Kugel hatte ihn am schlimmsten verletzt – sie traf ihn an der Schulter, genau zwischen dem Teil der Brust, der durch die Weste geschützt wurde, und der ungeschützten äußeren Schulterpartie. Bänder, Muskeln und Nervenansätze waren zerstört worden. Der Arzt konnte nicht genau sagen, wie lange der Arm außer Funktion gesetzt sein würde. Aber Stefanovic versicherte ihnen, dass der Doktor davon ausging, dass er wieder gesund werden würde.
Sie saß mit ihrem iPhone auf dem Bett. Aktivierte gerade ein Nachrichten-App.
Hatte sich den Rücken mit kleinen Kissen ausgepolstert, die normalerweise auf dem Sessel lagen. Sie trug ihren rosafarbenen Juicy-Couture-Anzug aus Velours. Heute pfiff sie auf Facebook. Hatte keine Lust auf einen Chat mit irgendwelchen Bekannten, zu denen sie eigentlich sowieso keinen Kontakt haben wollte. Wollte sich nicht alle möglichen Status-Updates ansehen müssen – kleine verlogene Angeber-Blogs, die nur ein Ziel hatten: ein glückliches und zufriedenes beschissenes kleines Leben vorzutäuschen. Sie wollte sich nicht noch mehr hochgeladene Partybilder von Lollos und Toves letzter Kneipentour oder Lunch mit ihren Freundinnen ansehen müssen. Sie wollte sich die ganzen dämlichen Wall-Dialoge nicht antun.
Andererseits: Ihre innere Unruhe wurde langsam, aber sicher in andere Bahnen gelenkt. Die Gedanken brannten regelrecht in ihrem Kopf. Wer auch immer es gewesen sein mochte, der auf Papa geschossen hatte, sie mussten ihn
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