Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Fragen stellen muss – aber die müssen irgendwie ganz besonders formuliert sein, das habe ich ehrlich gesagt nie ganz verstanden.«
Es stellt sich heraus, dass weder Vater noch Mutter so genau wissen, was ihre Tochter da montagnachmittags tut. Und vor allem: wie sie es tut. Und während wir uns an unsere Philosophiekurse zu erinnern versuchen, hat die wunderbare kleine Lady den Kopf auf ihren roten Strickärmel gelegt und die Augen halb geschlossen. Gleich wird sie eingeschlafen sein, schon sehe ich einen kleinen Spucketropfen im zartrosa Mundwinkel quellen. Aber eins murmelt sie noch, bevor der Tag endgültig aus ist: »Jaaa Mann, ich kapier das ja auch immer nicht mit den blöden sokratischen Fragen da.« Und dann ist sie weg. Sehr beruhigend finde ich das übrigens, kleine Lady.
D as Vorführbaby oder
J eder sollte eins kaufen können
D ie Welt steckt voller Wunder. Menschen begegnen einander, sie schauen sich tief in die Augen und tun möglicherweise Dinge miteinander, von denen hier nicht im Detail die Rede sein soll. Und bums! erleben sie das Wunder von Fortpflanzung und Geburt. Sie werden also Mutter oder Vater und als solche eine freudig erwartete Zielgruppe der ausdifferenzierten Konsumwelt kapitalistischen Zuschnitts. Doch es gibt auch Menschen, die an diesem Wunder nicht teilhaben, die keine Kinder wollen oder deren Kinder schon längst selbst erwachsen sind. Die Spaß am Leben haben und sich trotzdem nicht weiter fortpflanzen wollen. Die haben es nicht leicht im Prenzlauer Berg.
Freundin Christina zum Beispiel wohnt in einem Haus, das vom Erdgeschoss bis zum vierten Stock voller Kinder und Babys steckt. Im Hinterhof summt und greint und singt und weint es aus allen Fenstern, aus der Mülltonne müffeln die vollen Wegwerfwindeln, und der Hausflur ist verstopft mit all den teuren Kinderwagen, den Transporträdern, Fahrradanhängern, Bobbycars und Laufrädern. Wenn die kinderlose Christina morgens oder abends mit ihrem hübschen Hund Peter Gassi gehen will, hat sie Mühe, sich und das Tier unversehrt durch all das technische Equipment, die ein- und aussteigenden, ankommenden und abfahrenden Kinder, Mütter und Väter hindurchzulavieren. Klar, dass eine Störerin wie sie – mit einer vierbeinigen Bestie statt einem vorschriftsmäßigen Kind – dann böse Blicke erntet.
Manchmal, sagt Christina, überlegt sie schon, sich einfach einen gebrauchten Kinderwagen zu kaufen, die Regenplane drüberzuziehen und mit dem leeren Gefährt durch die Straßen des Prenzlauer Bergs zu ziehen. Dann könnte sie Peter an den Wagen binden, und keiner würde mehr misstrauisch gucken, was dieser jugendgefährdende Hund wohl vorhaben mag. Denn Peter wäre dann augenscheinlich das attraktive Mitglied einer normalen Familie, die sich beides leistet: ein Kind und einen besten vierbeinigen Freund für eben jenen kleinen Nachkommen.
Doch der Kapitalismus wäre nicht das überlegene System, für das er gern gehalten wird, hielte er nicht auch für Menschen wie Christina etwas bereit, durch dessen Kauf sie trotz fehlenden Nachwuchses zum sichtbaren Mitglied der Familienmehrheitsgesellschaft werden könnte. Die Rede ist vom Reborn-Baby. Das Reborn-Baby sieht aus wie ein Neugeborenes, es ist genauso schwer und liegt so weich wie ein kleiner Mehlsack im Arm. Es hat Haare und Wimpern, Nasenlöcher und schläfrige Augen, und dank eines Speziallacks glänzen seine Mundwinkel feucht wie vom Sabbern. Es schreit nicht und kackt nicht, es bockt nicht, hat nie Fieber oder Hunger – aber es duftet nach Puder und dieser trockenen Süße, die Babys so an sich haben. Das Reborn-Baby ist ein nahezu perfektes Fake-Kind für kinderlose Teilzeitmütter. Es ist weitaus perfekter als diese mottigen Kunstpuppen, die einsame Omas bei Shopping-Sendern kaufen und die einen manchmal unter ihren grusligen Kunstlocken hervor aus Parterrefenstern anstarren.
Reborn Babys kosten eine Menge Geld. Und es gibt tatsächlich Frauen, die solche Zeigekinder für 250 Euro käuflich erwerben. Ein Blick auf die Website der führenden Reborn-Meisterin Deutschlands mutet an wie ein Besuch in Frankensteins Labor. Die Puppen werden aus Bausätzen zusammengesetzt und so perfekt gestaltet, dass kaum jemand auf den ersten oder zweiten Blick vermuten wird, dass das kleine schlafende Ding da im Wagen gar nicht echt ist.
Baby Sophie zum Beispiel – 48 Zentimeter groß und bedenkliche 2450 Gramm leicht – wurde gleich nach ihrer Ankunft im Bausatzpaket »entfettet und
Weitere Kostenlose Bücher