Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Naturkunde-Workshop in der Schule hat, wird das Ganze von allen dreien, Mutter, Vater und Kind, engagiert vorbereitet und mitgetragen. Im Fachhandel wird das nötige Equipment erworben, und nachmittags ist auf dem Spielplatz keine Grille mehr sicher vor der Botanisiertrommel aus Plastik, die die Kleine stets bei sich trägt. Aus der Bibliothek werden die Pflanzenbestimmungsbücher herbeigeschafft und abends vor dem Schlafengehen gemeinsam durchgeblättert. Im Grunde, dieser Eindruck drängt sich auf, sind sie drei beste Freunde, die nur ein paar Lebensjahre trennen, deren Erfahrungswelt aber gleich schön, groß und aufregend ist.
Erst heute hat die Familie wieder einen schönen Erfolg feiern dürfen. Die kleine Lady ist nämlich nicht nur klug und kregel, sie verfügt auch über ein besonderes Talent: als Judoka wirft sie kleine Mädchen ihrer Alters- und Gewichtsklasse gekonnt und mühelos auf die Tatami. Da macht ihr keiner was vor, schließlich hat sie bereits den gelben Gürtel und wurde prompt zur Berliner Schüler-Meisterschaft eingeladen. Heute Morgen war der Wettkampf. Die kleine Kämpferin und ihr Vater sind um sieben Uhr zur Sporthalle aufgebrochen, und weil die Ladymutter ausnahmsweise mal länger schlafen wollte, hat der Lord den – siegreichen – Kampf der kleinen Lady mit der Handy-Kamera aufgenommen.
Da sitzen wir nun alle bei Tisch: vier Erwachsene und ein Kind. Inzwischen ist der Braten aufgetragen, wir spachteln und schauen uns dabei ein paarmal hintereinander den Film an. Wie die kleine Judoka die Tatami betritt, wie sie und ihre nicht minder sympathische Gegnerin sich voreinander verbeugen, um anschließend brutal übereinander herzufallen. Es wird gehebelt und geworfen, ein großes Durcheinander von Armen, Beinen und Zöpfen – und am Ende des Gezappels ist die kleine Lady Meisterin in ihrer Altersklasse. Wahnsinn!
Dabei habe ihre Tochter kaum etwas getan für diesen Sieg, ergänzt beiläufig die Mutter. Nur die Drohung des Trainers, sie nicht am Wettkampf teilnehmen zu lassen, habe die Achtjährige bewegen können, in den letzten vier Wochen tatsächlich pünktlich zum Training zu gehen und an ihrer Wurftechnik zu arbeiten. »Was denn«, frage ich die kleine Lady und stupse sie in die Seite, »du gewinnst in einer Sportart, die du nicht mal richtig magst?« Die Angesprochene reagiert kaum, sie ist satt und müde und außerdem damit befasst, sich den Film noch einmal anzuschauen. Deshalb antwortet ihre Mutter für sie. »Naja, das Training ist immer montagnachmittags um fünf, weißt du. Ein ziemlich ungünstiger Termin, denn vorher hat sie im Hort noch Sokratisches Gespräch.«
Fast spucke ich den guten Rosé aufs Leinentischtuch vor Lachen. Zu irre ist der Gedanke, dass da mit mir am Tisch ein Kind sitzt, das mit seinen acht Jahren Dinge treibt, Denksportarten, der gehobenen Sorte, die ich gerade mal vom Hörensagen kenne. Sokratisches Gespräch ist eine Art Gruppenkommunikation, in der so lange gefragt und gegengefragt wird, bis alle einer Meinung sind. Also im Grunde so etwas wie eine SED -Parteiversammlung, nur dass nicht schon vorher das Ergebnis feststeht. Ich sage: »Das ist nicht euer Ernst – eine Achtjährige führt im Schulhort sokratische Gespräche?«
Die drei schauen mich irritiert an. Ich spüre, dass mir im Hinblick auf zeitgemäße, effektive Pädagogik irgendwas fehlt: Toleranz womöglich, höheres Verständnis, Coolness. Meine Töchter haben gebastelt im Hort, Kuchen gebacken oder Hopse gespielt. Und wenn ich Glück hatte, waren, wenn sie nach Hause kamen, die Schularbeiten gemacht und sie konnten entspannt die Simpsons gucken. Heute tun sie so etwas zwar auch, aber dafür heißt das jetzt Science-Workshop, Ernährungs- AG und Workout, und alles ist total nützlich und bildend. Selbst Hausaufgaben sind jetzt Exercises und werden im Team erledigt.
Ich habe die kleine Lady wirklich gern. Dieses Kind erfreut mein Herz mit seiner Neugierde, seiner Unverkrampftheit und Lebensfreude. Es ist bei ihm wirklich nullkommanix von Überforderung zu spüren, von Eiskunstlaufmutti-Wesen oder anderen Auswüchsen mitteleuropäischen Leistungsüberdrucks. Und doch macht es mich ganz nervös, dass ausgerechnet dieses betörende Zopfmädchen so perfekt ist. Und dass ihre Eltern, meine guten Freunde also, dieses Überangebot an guten Eigenschaften nicht irritiert. »Sokratisches Gespräch«, hake ich bei ihnen noch mal nach, »ist das nicht total kompliziert? Ich weiß nur, dass man da
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