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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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Mitternacht die Schlafsucht, die ihn sonst überfallen. Dem unerachtet sank er zurück in die Kissen und stellte sich bald, als sei er fest eingeschlafen. Leise, leise verließ nun die Gräfin ihr Lager, trat an das Bett des Grafen, leuchtete ihm ins Gesicht und schlüpfte hinaus aus dem Schlafzimmer. Das Herz bebte dem Grafen, er stand auf, warf einen Mantel um und schlich der Gattin nach. Es war eine ganz mondhelle Nacht, sodass der Graf Aureliens, in ein weißes Schlafgewand gehüllte Gestalt, unerachtet sie einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen, auf das Deutlichste wahrnehmen konnte. Durch den Park nach dem Kirchhofe zu nahm die Gräfin ihren Weg, dort verschwand sie an der Mauer. Schnell rannte der Graf hinter ihr her, durch die Pforte der Kirchhofsmauer, die er offen fand. Da gewahrte er im hellsten Mondesschimmer dicht vor sich einen Kreis furchtbar gespenstischer Gestalten. Alte, halbnackte Weiber mit fliegendem Haar hatten sich niedergekauert auf den Boden und mitten in dem Kreise lag der Leichnam eines Menschen, an dem sie zehrten mit Wolfesgier. – Aurelie war unter ihnen! – Fort stürzte der Graf in wildem Grausen und rannte besinnungslos, gehetzt von der Todesangst, von dem Entsetzen der Hölle, durch die Gänge des Parks, bis er sich am hellen Morgen im Schweiß gebadet, vor dem Tor des Schlosses wiederfand. Unwillkürlich, ohne einen deutlichen Gedanken fassen zu können, sprang er die Treppe herauf, stürzte durch die Zimmer, hinein in das Schlafgemach. Da lag die Gräfin, wie es schien, in sanftem, süßem Schlummer, und der Graf wollte sich überzeugen, dass nur ein abscheuliches Traumbild oder, da er sich der nächtlichen Wanderung bewusst, für die auch der von dem Morgentau durchnässte Mantel zeugte, vielmehr eine Sinne täuschende Erscheinung ihn zum Tode geängstigt. Ohne der Gräfin Erwachen abzuwarten, verließ er das Zimmer, kleidete sich an, und warf sich aufs Pferd. Der Spazierritt an dem schönen Morgen durch duftendes Gesträuch, aus dem heraus munterer Gesang der erwachten Vögel ihn begrüßte, verscheuchte die furchtbaren Bilder der Nacht; getröstet und erheitert kehrte er zurück nach dem Schlosse. Als nun aber beide, der Graf und die Gräfin, sich allein zu Tische gesetzt und diese, da das gekochte Fleisch aufgetragen, mit den Zeichen des tiefsten Abscheus aus dem Zimmer wollte, da trat die Wahrheit dessen, was er in der Nacht geschaut, grässlich vor die Seele des Grafen. In wildem Grimm sprang er auf und rief mit fürchterlicher Stimme:
    »Verfluchte Ausgeburt der Hölle, ich kenne deinen Abscheu vor des Menschen Speise, aus den Gräbern zerrst du deine Atzung, teuflisches Weib!« Doch sowie der Graf diese Worte ausstieß, stürzte die Gräfin laut heulend auf ihn zu und biss ihn mit der Wut der Hyäne in die Brust. Der Graf schleuderte die Rasende von sich zur Erde nieder, und sie gab den Geist auf unter grauenhaften Verzuckungen. – Der Graf verfiel in Wahnsinn.

Nachbemerkung
    Hoffmanns Erzählung wird gelegentlich mit »Vampirismus« betitelt, was dem modernen Leser sich nicht gleich erschließen mag. Schließlich wird kein Blut gesaugt, sondern Leichenfleisch verspeist. Diese Nekrophagie wird üblicherweise Ghulen zugeordnet. Ghule stammen aus dem arabischen Sagenkreis, am bekanntesten sind wohl ihre Auftritte in der Textsammlung »Tausendundeine Nacht«. Da sind es zu den Dschinnen gehörende Wüstendämonen, die einsame Reisende mit Lug und Trug in Fallen locken und töten, um sie zu fressen. Diese Verbindung passt auf den ersten Blick gut, zumal sich die Erzählstrukturen der beiden Werke durchaus ähneln. In »Tausendundeine Nacht« ist es Scheherazade, die spannende und seltsame Geschichten zur Unterhaltung des Königs erzählen muss, um ihr Leben zu retten. Dazu verwendet sie unzählige ineinander verschachtelte Binnenerzählungen, sodass keine Nacht mit einem klaren Einschnitt endet. In »Die Serapionsbrüder« wird diese Struktur eingeschränkt genutzt. Dort treffen sich junge Leute, um sich spannende und seltsame Geschichten zur Unterhaltung zu erzählen. »Cyprians Erzählung« selbst ist schon eine Binnenerzählung und enthält mit Aurelies Bericht noch einmal eine Binnenerzählung. Der Schluss wäre jedoch voreilig, da der verschachtelte Erzählstil keineswegs unüblich war.
    Betrachtet man die Geschichte genauer, so wandelt sich das Bild. Wichtig ist die Feststellung, dass Hoffmann das Vampirmotiv auf die unheilige Ménage-à-trois aufteilte. Die

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