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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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besonderen, auf ein Lernziel zugespitzten Lerngegenstand. Sondern irgendeinen. Jeder Gegenstand, der irgendwo herumliegt, ist zur Bereicherung seines inneren Erlebens grundsätzlich brauchbar. Ein Kind nimmt
das nächstbeste Objekt aus seiner Lebenswelt. Sagen wir einen kaputten Stuhl oder einen geplatzten Luftballon. Aus diesem oder einem anderen »Weltding« beginnt es, freudig und uneingeschüchtert, seine kleine Welt schrittweise zu enträtseln.
    Und das geht so: Ein Kind lässt sich von diesen herumliegenden Sachen berühren. Jetzt kommt es, wie gesagt, nicht auf irgendeinen Inhalt an, den man in den Kopf eines Kindes mit hundert Motivationstricks hineinbefördern will, es kommt nur auf die kindlich-eigenen Tätigkeiten an.
    Die Gehirnphysiologie sagt im Übrigen dasselbe: Mit jeder neuen Erfahrung, jeder Fantasie und jedem »Handhaben« entstehen neue »Verschaltungen seiner Gehirnareale«. Jede Verbindung knüpft noch mehr geistige Wachsamkeit, mehr kreative Potenz – alles wird immer weiter vorangetrieben, so weit die kindliche Intelligenz und Kreativität reicht. Und sie reicht eigentlich immer bewundernswert weit.
    Mit einem unlebendigen pädagogischen Lernobjekt würde hingegen gar nichts »verschaltet«, alles bliebe passiv und unbewegt.
    Darum legte Fröbel so viel Wert auf das ungehinderte freie Spiel der Kinder. Freie Tätigkeiten vermehren die schöpferischen Kompetenzen. In den bildgebenden Verfahren der Gehirnforschung kann man sich das teilweise direkt anschauen. Faszinierend. Aber wichtiger als solche äußeren biologischen Fakten ist dann doch das, was seelisch in der Entfaltung der kindlichen Psyche vor sich geht.

    Das erst nur zufällige Objekt hat sich durch die Tätigkeiten des Kindes, sein Forschen und Neu-Gestalten, verändert, haben wir herausgefunden. Jetzt ist nichts mehr zufällig. Es ist jetzt für dieses Kind ein ganz besonderer Gegenstand geworden, anders als alle anderen Sachen umher. Durch seine konzentrierte geistige und handwerkliche Tätigkeit mit ihm hat es jetzt ein tiefes Empfinden für ihn. Es ist ein ganz unaustauschbarer Gegenstand geworden. Zugleich hat es seine Wahrnehmungsfähigkeiten weiter aufgebaut. Ein dynamischer Vorgang ist das, kein fixierter, er führt ins Offene und nicht in Bürokratisches: »Das ist richtig – dies ist falsch«. Was richtig ist, muss das Kind ja erst mal selbst erforschen. Es gibt kein »Richtig« an sich. »Falsch« auch nicht.
    Kinder sind bei solchem Erforschen übrigens urplötzlich geduldig und konzentriert, auch wenn sie ein paar Stunden vorher partout nichts auf die Reihe brachten. Schöpferisch ist das Zauberwort. Das Kind erschafft aus den Ressourcen seiner Psyche die Kräfte und Fähigkeiten, sich mit einem Objekt unendlich geduldig zu befassen, es ganz stolz und verliebt anzuschauen und weiterzuschuften, geistig und körperlich. »Mein Gegenstand! Mein Teddybär. Meine Einkaufstüte. Mein Stück Holz«. Alles ist Leben und Abenteuer und alles ist umgeben von einem Geheimnis.
    Mit diesem jetzt ganz persönlichen Objekt befindet sich ein Kind auf einer Erfahrungsspur, die ganz individuell-persönlich ist. Es ist ganz im selbstverträumten Spiel. Aber zugleich ist sie allgemein-geistige Kultur, an
der sich unser Kind dabei beteiligt, Anteil nimmt. An der es ein Teil ist von ihr.
    Nun also zum nächsten Gedankenschritt.
    Wodurch werden diese Grundlagen zur Bewältigung so schwieriger Vorgänge so kühn und sicher gelegt? Ich gebe wieder meine Schlagertext-Antwort: durch die Liebe. Sie ist es, die die Brücke schlägt zwischen Kind-Ego und sozialer Gemeinschaft. Sie ist es, die die »triebhafte Natur« beseligt und sich öffnet auch für die anderen (die Gemeinschaft). Diese Liebe hat ihre allererste Grundlage in der urvertrauten Liebe zu den Eltern, zu Mama und Papa, danach folgen alle anderen seelischen Entwicklungen.
    Die Empfänglichkeit und Formbarkeit des kindlichen Gehirns wird hier ganz ausgereizt. Solche Grundlagen und Gewissheiten zu schaffen, das ist die überwältigende Aufgabe des ersten großen Lebensabschnittes. Mit etwa sechs Jahren findet er einen vorläufigen Abschluss. Ein von Bildern, Eindrücken, Kreativität und Lust geradezu überquellender »Bildungsgang« liegt dann schon hinter diesem Kind – es durcheilte seine ersten großen Reifungsprozesse.
    Vielleicht wird jetzt deutlicher, warum solche selbst gelenkten kindlichen Bildungsvorgänge nicht mit traditionellen Ideen von »Lernen« vergleichbar sind.

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