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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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Irgendwie erinnern sie noch am ehesten an die Entstehung von Kunstobjekten. Und das meine ich ganz im Ernst. Tatsächlich haben viele hoch angesehenen Künstler des Bürgertums, zum Beispiel Jean Paul, der große Kindheitsverklärer und Mystiker, auf die Ähnlichkeit des
kindlich-kreativen Spieles und künstlerischer Gestaltung aufmerksam gemacht.
    Machen wir diesen Gedanken an einem Beispiel anschaulich. Nehmen wir einfach wieder den oben schon genannten kaputten Stuhl und den geplatzten Luftballon. (Sehr viel abwegigere und zufällige Objekte fallen mir grade nicht ein, also ist mir dieses gerade recht!)
    Mit seiner Fantasiekraft lässt ein Kind aus dem zerdepperten Ballon ein gestrandetes Luftschiff werden. Oder der arme Stuhl wird jetzt zu einem gruseligen Objekt, auf dem ein Gefangener kläglich hockte, sich schließlich in wilden Kloppereien (es ist eine Jungenfantasie!) befreite und seine Feinde in die Flucht schlug. Nicht die konkreten Inhalte sind wichtig, sondern die vielfach möglichen Beziehungen zwischen objektiver Realität und den seelisch-geistigen Tätigkeiten des Kindes. Sie sind von einer unendlichen Fülle, von unendlichem Gestalten und Neu-Gestalten. Jedes Mal wird ein Stück Kreativität und mehr aus dem psychischen Geschehen eines Kindes hervorgekramt, um diese Fülle in immer neuen Varianten aufzurufen. Genau dieser Auftrieb aller kreativen Kräfte ist hier das Bildungsgeschehen.
    Diese Freude am Wachsen all seiner seelisch-geistigen Fähigkeiten – man sieht dem Kind seinen Stolz an, es glüht geradezu davon. Was könnte Bildung denn Schöneres sein?
    So viele Bilder aus sich selber, aus dem eigenen Zauber, dem eigenen Zeichnen oder Kritzeln zu entdecken, verleiht dem Kind tiefe selbstgewisse Befriedigung. Es sind so viele Impulse, die es jetzt schon ineinander verbandelt
hat, und es gibt noch viel mehr. Die innere und äußere Welt ist unabsehbar spannend – das ist Bildung, die ein Kind in Spannung und konstruktive Lust versetzt. Und ihm gleichzeitig ein zuversichtliches Bild seiner eigenen Zukunft ausmalt.
    Kinder sind dabei oft wie gebannt von ihren eigenen Fähigkeiten. Und sie schuften, malen, kritzeln – alles in Kopf und Herz ist in Bewegung.
    Nun hatte ich zwischendrin ein starkes und ungenaues Wort eingebracht, es ist uns ja fast schon wieder entfallen. Es lautete: Liebe. Sie ist die Brücke zwischen Ego und Gemeinschaft. Das werde ich nachher noch an Beispielen erklären. Was ein Kind an Gefühlsgewissheiten (erinnern wir uns an Kants Begriff?) erworben hat, was es an Wärme und Vertrauen bereits bekommen hat, das gibt es jetzt zurück, indem es sich vertrauensvoll seinen geistigen und malenden und bastelnden Tätigkeiten überlässt und sich dabei ganz beschützt fühlt. Nur wer sich in der frühen Kindheit ganz geborgen fühlte, hat solche Großmut des Herzens.
    Ja, es wird nun großherzig, unser zufriedenes, von seinem eigenen Handeln ganz beglücktes Kind, das seinen Schaffensprozess jetzt eben nicht wie einen steifen Besitztitel festhalten will. Es kann und will abgeben. Das ist Bildung. Herzensbildung hätte man früher einmal gesagt. Dazu traut man sich heute gar nicht mehr, es trifft die Sache aber genau.
    Eine festere Brücke zwischen Ego und sozialer Moral kann man sich gar nicht vorstellen. Hier haben wir sie! »Was mir zu eigen ist, soll auch in der dir eigenen Weise
dir zugehören. Ebenso wie mir. Ich hocke nicht wie ein Esel auf meinem Besitzdenken, ich gebe es weiter.« Kinder können das, solche Großherzigkeit gehört auch zum kindlichen Charakter. Es ist ihr schönster Teil.
    Auf dem Boden der freien kindlichen Individualität finden wir Gemeinschaft und soziale Moral – so lautet die Grundregel des geistigen Erwachens und Fortschreitens. Neben Kants hellem Menschenbild trat diese pädagogische Hoffnung und Einsicht mit Fröbel in die abendländische Geistesgeschichte ein. Wir leben pädagogisch und philosophisch davon, bis heute.
    Verstehen wir, dass ein Kind sich auf diese Weise zu immer kräftigeren und komplexeren Erfahrungen durcharbeitet? Und zwar in hohem Maße individuell, doch gerade in seiner Individualität als Teil der Gemeinschaft?
    Unser Kind spürt es: Ich bin so! Bin Teil eines Ganzen, das ich gar nicht ganz übersehe, aber in mir fühle. Ich bin gleichzeitig ein Einzelner, ein Ich, ganz allein und auf mich selbst gestellt, eines, das sich auch einmal gegen die Gemeinschaft sperren darf.
    Das Persönliche hat sein Recht und das Soziale hat sein

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