Lasst eure Kinder in Ruhe
neues Verständnis von Individualität und Sozialität. Individuelle Freiheit, sagt Kant, ist kein Gegensatz, sondern ein Teil der sozialen Moral. Beides unaufhebbar miteinander verbandelt.
Dies hier ist ja auch an Komplexität kaum zu überbieten: Das Ego mitsamt seiner inneren Freiheit und das Soziale, das auch im Menschen angelegt ist. Beides in einem gleichzeitigen Reifungsprozess zu erleben und immer weiter voranzutreiben, Aneignung der Weltdinge statt Fakten stur nachzuplappern – das ist moderne Bildung. Besonders in einer Gesellschaftskultur, in der wie in der unsrigen die Zukunft flexibel und unvorhersehbar ist. Nichts ist beständig.
Wenn unsere Kinder diese vielfältige Plastizität der modernen Welt nicht in den Griff bekommen, dann sind sie von der modernen, lauten und unübersichtlichen Welt rasch überfordert. Dann werden sie hektisch und nervös, unkonzentriert auf jeden Fall. Kinder schaffen sich deshalb eine eigene Ordnung, auch im Gruppengeschehen.
Welch manchmal stilles, mal lautstarkes Chaos diese seelische Reifungsprozesse doch sind. In einem guten Kindergarten herrscht eigentlich immer aufgeregtes und dann wieder beschwichtigtes Durcheinander. Mal gibt es pure Konzentration und dann wieder lauter Quatsch.
Und just aus solchem Chaos formt sich im Lauf der ersten fünf oder sechs Lebensjahre eine tief fundierte geistig-seelische Ordnung. Freilich nur, wenn nicht gelenkt und gelenkt wird. Locken müssen die Sachen und Materialien, eine Versuchung sollen sie sein, fast so spannend wie ein Verbot, das man als Kind ja auch unbedingt umgehen muss.
Die Kleinen lassen sich darauf ein, neugierig und gespannt wie ein Flitzebogen und hoch konzentriert, weil
es ja nun ganz auf sie selber ankommt und nicht auf fades Nachmachen.
Kants philosophischer Gedanke lautete dazu: Ja, wir Menschen können miteinander leben, und nicht nur gegeneinander. Der Mensch ist zur Einsicht in sein eigenes ego-verhangenes Tun fähig. Nein, er ist nicht des Menschen Wolf, sondern sein Spiegel. Wir Menschen müssen unserer »tierischen« Natur, die auch Teil von uns ist, nicht nachgeben, wir können sie in die Geborgenheit der Gemeinschaften einbringen. Sie wird sozialer, Stück um Stück. Dabei lernt ein Kind sich selber als gemeinschaftliches Wesen kennen.
Bei der »Welterkundung«, von der wir in der Nachfolge der großen Aufklärer reden, verändert das Kind sein Objekt fortwährend. Malend und bastelnd erkennt es stolz an jeder Veränderung und Modulation seine ganz eigenen Kompetenzen. Das Erkunden des Gegenstandes ist immer auch ein Finden der eigenen Fähigkeiten. Ein dynamischer, kein starrer Vorgang.
Und woher kommt die innere, die seelische Kraft, die zwischen Gegenstandswelt und dem Kinder-Ego eindringlich vermitteln kann? Meine Antwort: Ein Kind muss aus seinen seelischen Kräften eine Brücke bauen.
Ist es nicht wunderbar und irgendwie heiter stimmend, dass sich manche Antworten auf so schwierig daherkommende Fragen ganz einfach, fast kitschig, wie ein Schlagertext erteilen lassen – und trotzdem wahr sind?
Woraus kann die Brücke denn nun bestehen? Ich zögere. Die Antwort ist wirklich äußerst simpel, fast
zu simpel, dabei bewegen wir uns doch auf dem höchsten Pegel der neuzeitlichen Philosophie und Pädagogik: Nun aber, nur Mut (sage ich selbstkritisch zu mir). Die Antwort lautet: Es ist die Liebe, die diese Brücke schlägt.
Liebe ist auch nicht einfach, schon wieder etwas so Vertracktes. Die Liebe, von der wir hier reden, kann viele Erscheinungsformen annehmen und ist in der Substanz doch immer dieselbe. Die ersten Spuren der Liebe, ihre Markierungen ins seelische Geschehen hinein, davon müssen wir reden. Wir reden von der stillen Gewissheit, die das Kind in den Armen der Mutter, des Vaters empfangen hat, viele Male, Tag für Tag. So wird sie sicherer Seelenbestand. Eine Behütung!
Die ersten »Werdungen« des kleinkindlichen Selbst, wenn es an Mamas Brust oder auf Papas Arm die Dinge ringsum betastet und neugierig in den Mund steckt: Es will sie sich »zu eigen machen«. Dann das erste Selber-Bauen mit Klötzchen, die ersten Worte und Sätze, schließlich die mutige Hinwendung zur sozialen Umwelt, weg vom Ego. Jede dieser Entwicklungsstufen muss in der richtigen Abfolge gelebt werden. Wer einen dieser Entwicklungsschritte überspringen will, etwa damit das Kind früher und schneller lernt, behindert diesen Seelenprozess.
Um solch offenes Erleben aufzubringen, braucht ein Kind keinen
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