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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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des Patienten ersetzen, sondern muss der Behandlung der schlimmsten Symptome vorbehalten bleiben. «
     
    Solche Beschreibungen höre ich von Kollegen mittlerweile häufiger. Und die mediale Beschäftigung mit Phänomenen wie Depressionen, Burn-out, Erschöpfung usw. steigt auch stetig an, wie regelmäßige Artikel in allen Zeitungen und Zeitschriften oder auch ganze Sonderhefte wie etwa vom »SPIEGEL« oder »Psychologie Heute« 8 zeigen. Es muss also so sein, dass die Gesellschaft die Häufung von Überforderungsgefühlen entdeckt hat. Betrachtet wird dabei jedoch fast immer, wie der einzelne Mensch reagiert und aus welchen Gründen er möglicherweise so reagiert, denn im Vordergrund steht die Hoffnung, dem Einzelnen zu helfen.
    Die Annahme einer kollektiv wirkenden Ursache, wie ich sie hier vorstelle, stellt eine Ausnahme dar. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass wir wesentlich systemischer denken
müssen, um zu Lösungswegen zu finden. Die Erkenntnis, dass es sich um ein übergeordnetes Problem handelt, für das der Einzelne zunächst einmal gar nichts kann, würde auch entlastend wirken. Die Ursache für das Hamsterrad ist für viele Menschen gleich, die Lösungsansätze und Auswege werden letztlich aber immer individuell sein.
    Was bei tatsächlichen Katastrophen mit unserer Psyche geschieht
    Es ist in diesem Buch viel von Katastrophen die Rede, die keine »echten« Katastrophen in dem Sinne sind, dass sie alle Menschen gleichermaßen unmittelbar betreffen. Das »Problem«, zumindest in der westeuropäischen Hemisphäre, ist, dass wir schon lange keine solchen echten Katastrophen mehr hatten. Gemeint sind damit natürlich immer katastrophale Ereignisse, die sich für alle Menschen existenziell auswirken. Dass der Einzelne bisweilen mit persönlichen Katastrophen konfrontiert ist, steht außer Frage, ist aber hier ohne Bedeutung.
    Krieg und Hunger gehören für Westeuropa einer nur noch für die Ältesten realen Erinnerung an, Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben gibt es, sie sind aber in ihrer Intensität und ihren Auswirkungen zumindest nicht mit ähnlichen Ereignissen in anderen Erdteilen vergleichbar. Die furchtbaren Ereignisse in Japan im Frühjahr 2011 haben uns durch die Atomthematik zwar einen gefühlten Bezug zu unserem eigenen Umfeld verschafft; die eigentliche Katastrophe
mit Erdbeben und Tsunami war aber vor allem ein Vehikel, um eine bereits lang anhaltende Diskussion um Kernenergie wieder mit neuer Stoßkraft zu führen; eine Diskussion, die bis dato hierzulande zuletzt von offizieller Seite eher auf kleiner Flamme gekocht wurde. Wie aber würden wir, wie würde unsere Psyche reagieren im Anblick einer solchen echten Katastrophe, die uns ganz unmittelbar betrifft?
    Nehmen wir das Beispiel eines Erdbebens größeren Ausmaßes, da dies für unsere Breitengrade von allen Optionen noch die wahrscheinlichste ist. In dem Moment, in dem der Ernstfall eingetreten ist, die Erde gewackelt hat, Häuser einstürzen und Erdkrater sich auftun, würde unsere Psyche automatisch auf Katastrophenmodus umschalten. Uns wäre ohne jede rationale Überlegung völlig klar, dass wir jetzt nur noch funktionieren müssen, um zu retten, was noch zu retten ist. Automatisch würden wir versuchen, zunächst das Leben anderer Menschen, bevorzugt unserer eigenen Lieben, in Sicherheit zu bringen, danach das Hab und Gut zu retten, das uns wichtig ist. In Deutschland haben vor allem Menschen in den kritischen Hochwasserregionen in den letzten Jahren einen Eindruck von diesem Szenario bekommen.
    Der Angstforscher Borwin Bandelow hat die menschliche Reaktion in einem Interview mit Spiegel Online so beschrieben:
    »Im Notfall schaltet der Mensch auf Survival-Modus. Das Gehirn wird auf eine niedrigere Stufe zurückgeschaltet, bestimmte Strukturen sind jetzt aktiver als andere. Diese Funktion schützt vor psychischen Schäden, denn wenn die primären Bedürfnisse
befriedigt werden, fühlt man sich zumindest vorübergehend gut. Wir sind dafür gebaut, Überlebenskünstler zu sein.« 9
    Diese Handlungen würden vollständig automatisiert ablaufen, wir handelten also in diesem Fall nicht mehr vorwiegend als reflektierte Individuen, wären nicht mehr wir selbst, sondern richteten uns nach einem unsichtbaren Antrieb, der uns vor allem eines vorgibt: weiter, weiter, weiter, sonst geht alles unter. Das führte in einem solchen Ernstfall auch dazu, dass man vieles täte, was eigentlich gar nicht notwendig wäre. Die Psyche hält den

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