Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Körper dann durchgängig auf Trab, suggeriert ihm die Notwendigkeit ständiger Bereitschaft, selbst wenn zwischendurch eine Beruhigung der Lage eintreten sollte.
Größere Erdbeben ziehen in der Regel auch Nachbeben nach sich. Die Katastrophe dauert also an, der Mensch bleibt im Alarmzustand und würde erst wieder in den Normalmodus zurückkehren, wenn wir ganz sicher sein könnten, dass die Gefahr vorüber ist und die Menschen sowie unser Hab und Gut gerettet sind.
Kennzeichen der psychischen Reaktion auf einen echten Katastrophenzustand ist also die länger währende automatische Ausschüttung von Stresshormonen, die uns in Aktion hält. Wir sind in dieser Phase nicht in uns ruhend, sondern durchgängig nach außen ausgerichtet, um die Katastrophe zu bewältigen. Wie ferngesteuert reagieren wir nur auf die extremen Reize, die durch das Unglück entstanden sind. Unsere Psyche hat dieses Programm gespeichert und ruft es ab, wenn sie entsprechende Signale erhält. Ein Kennzeichen
wäre allerdings auch, dass nach dem Ende der Katastrophe die Bewältigungsphase eintreten würde, in der wir wieder zur Ruhe kommen.
Das Hamsterrad
»Warum aber kann ich nicht aufhören, zu denken, zu kommunizieren, zu ersehnen? Mein Kopf sagt mir, dass er sich Ruhe wünscht. Mein Körper auch. Aber je mehr ich mich nach Ruhe sehne, desto mehr mache ich. Als hätte ich Angst vor diesen fünf Minuten, in denen man nichts tut, außer entspannt in die Sonne zu blinzeln. Ich fühle mich wie Charlie Chaplin in diesem Muster aus Zahnrädern gefangen, funktionieren, machen, einspringen … Aber irgendwie will ich das auch. Kann ich nicht mehr alleine sein? Bin ich süchtig nach Austausch? Und wovor habe ich eigentlich Angst?« 10
Blogs sind, wen wundert es, eine unerschöpfliche Fundquelle für Dokumente, die den Effekt beschreiben, der unserer Psyche zu schaffen macht. Wer bloggt, muss schreiben. Am besten täglich und in den wenigsten Fällen hauptberuflich, sondern neben dem Brotjob, abends, am Wochenende, frühmorgens vor der Arbeit, egal: Hauptsache, es geht weiter, die Leser wollen Futter, das ständige Rauschen im weltweiten Netz darf nicht leiser werden.
Wie war das noch früher? Wir kamen nach der Arbeit nach Hause, es gab Abendbrot und anschließend ging es ohne schlechtes Gewissen in den ruhigen Abend hinein. Die Beine hochlegen. Fernsehen. Ein Buch. Mit dem Partner
reden. Was auch immer. Jedenfalls gab es das noch: nicht mehr »on« sein, sondern ganz für sich und nicht mit der halben Welt verbunden.
Heute dagegen sind solche ruhigen Abendstunden das, was wir unbewusst vermeiden wollen. Leerlauf, der uns auf uns selbst zurückwirft und anstatt Ruhe und Gelassenheit Unruhe erzeugt. Heute muss die Feierabendzeit genutzt werden, es muss atemlos immer weitergehen, hyperaktiv wird auch die letzte freie Minute noch gefüllt. Und selbst wenn wir den Abend vor dem Fernseher verbringen, fällt es zunehmend schwerer, sich auf ein Programm, eine Sendung zu konzentrieren. Je mehr Angebote, je mehr Kanäle, desto stärker der Drang, sich durchs Programm zu zappen, immer auf der Suche nach dem größeren Kick.
Dass das nicht freiwillig geschieht, zeigen Umfragen wie die des Instituts für Angewandte Psychologie vom Februar 2011. Dort gaben 81 Prozent der Befragten an, sie fühlten sich durch ihre Arbeit überlastet, und zwar vor allem durch die gleichzeitigen Anforderungen durch Beruf und Familie. Der Aussage, dass der allgemeine Leistungsdruck in allen Bereichen des Lebens immer stärker zunimmt, stimmten beeindruckende 79 Prozent der Teilnehmer zu. Das sind Zahlen, die in ähnlicher Form durch andere Untersuchungen gestützt werden und den Spagat aufzeigen, den viele Menschen tagtäglich hinlegen. Einerseits macht man sich sehr viel von all dem Stress scheinbar freiwillig selbst, andererseits empfindet man ihn als belastend.
Dass in großen Firmen diese Eindrücke auch vorhanden sind, bestätigte mir BMW-Vorstand Harald Krüger in einem Gespräch in München im September 2010. Er betonte dabei, dass man firmenintern sehr intensiv daran arbeite, solchen
Entwicklungen zu begegnen. Damit wird deutlich, dass Firmen sich nicht von der Entwicklung im Bereich ihrer Mitarbeiter unabhängig machen können. Wenn die Menschen, die für ein Unternehmen arbeiten, in größerer Zahl unter Druck geraten, gerät auch das Unternehmen selbst unter Druck, da es nur mit zufriedenen Mitarbeitern so produktiv sein kann, dass es langfristig am Markt
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