Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
sie uns heute häufig genug »gönnen«: Da geht die Terminflut nach Feierabend gerade so weiter, und nichts unterscheidet die Freizeit von der Arbeitszeit. Die so gerne
und oft zitierte »Work-Life-Balance« ist angesichts dessen nur eine von vielen hohlen Phrasen, mit denen wir mittlerweile die Hamsterrad-Wirklichkeit zu kaschieren versuchen.
Ich will ein Beispiel zur Verdeutlichung anführen. Bei einer Veranstaltung traf ich kürzlich einen Universitätsprofessor, der für seinen hohen Arbeitseinsatz bekannt ist. Kollegen und Studenten schätzen an ihm beispielsweise die Schnelligkeit, mit der er auf Anfragen ihrerseits antwortet. Von mir befragt, wie er das mache, erzählte er stolz, dass er quasi jeden Abend noch am Schreibtisch sitze und eMails beantworte. Das mache ihm nichts aus, und die Rückmeldung gerade von den Studenten beweise ja auch, dass dieser Arbeitseinsatz sich lohne.
Ich fragte ihn dann, wie er reagieren würde, wenn seine Frau ihn bei dieser abendlichen Tätigkeit störte und – einfach nur so – bitten würde, mit ihr spazieren zu gehen, weil es ein schöner Abend sei. Möglicherweise würde er diesem Wunsch sogar nachkommen, doch könnte er den Spaziergang auch genießen? Wäre er mit den Gedanken bei seiner Frau, beim trauten Zwiegespräch? Oder würden sich seine Gedanken weiter um die letzte Antwort-Mail drehen, um Fragen, die es noch zu bearbeiten gilt, um Formulierungen und Begründungen? Darauf hatte er zunächst keine Antwort.
Worum es mir in diesem Beispiel geht: Wir können uns natürlich zwingen, von einer Sache zu lassen, den Stress abzuschalten und Freizeit zu haben. Das führt jedoch nicht unbedingt dazu, dass wir in dieser Freizeit auch wirklich zur Ruhe kommen. Und nur dann wäre der Spaziergang des Professors mit seiner Frau im eigentlichen Sinne wertvoll. Wenn
er innerlich abgegrenzt wäre, die Hoheit über sein Tun nicht verloren und das Heft des Handelns in der Hand hätte. Es geht weniger darum, ob er sofort springt, wenn seine Frau ihn anspricht. Es ist auch möglich, dass er sie bittet, einen Moment zu warten, bis er eine wichtige Mail abgeschickt hat. Wenn er sich jedoch dafür entscheidet, den Computer auszumachen, um ihrem Wunsch nachzukommen, sollte er auch bei ihr sein. Und bei ihr sein heißt – nicht nur in seinem Fall – eben zunächst einmal auch bei sich selbst zu sein.
Die Frage, die ich an ihn stelle (und viele von uns müssen sich heute diese Frage stellen), lautet: Bin ich Herr über meinen Computer, oder ist er Herr über mich? Den Computer zu beherrschen heißt nur vordergründig, mit den technischen Anforderungen umgehen zu können. Ihn wirklich zu beherrschen heißt: ihn ausmachen zu können, wenn und wann ich will.
Das klingt zunächst unbedeutend, wird jedoch zunehmend zum Kennzeichen unsere Online-Gesellschaft. Online zu sein bedeutet immer auch ein »woanders sein«. Ich bin nicht bei mir selbst, wenn ich online bin, sondern vernetze mich intensiv mit anderen. Neben den vielen positiven Effekten dieser Vernetzung führt sie eben auch dazu, das eigene Ich ein Stück weit aufzulösen. Mit jeder neuen Vernetzung gebe ich ein Stück von mir ab, es fällt mir schwerer, in den Offline-Modus zu schalten, da mir dann die fehlende Vernetzung schmerzlich bewusst wird und es mich drängt, sie wieder herzustellen. Ich habe schon vom Zapping gesprochen. Für viele Menschen mag der Fernseher nicht mehr die dominierende Rolle spielen, die er in zurückliegenden Jahrzehnten hatte. Das bedeutet jedoch nicht, dass in der frei
gewordenen Zeit mehr gelesen, miteinander gesprochen oder Sport getrieben würde. Die Fernsehzeit fällt nicht einfach weg, sie wird substituiert durch Online-Zeit. Das moderne Zapping ist das Surfen bzw. der dauerhafte Aufenthalt auf Social-Media-Seiten.
Gerade das Erstarken der sogenannten Sozialen Medien bietet ein anschauliches Beispiel dafür, was ich meine. Plattformen wie Facebook, Twitter, StudiVZ und andere sind mittlerweile über jedes internetfähige Endgerät auf einfache Weise ansteuerbar. Es ist also auch nicht mehr davon abhängig, ob ich gerade meinen Computer zur Verfügung habe, es reicht ein mobiles Endgerät, sei es Smartphone, Tablet-Computer oder Laptop, um die totale Verfügbarkeit sicherzustellen.
Diese Plattformen funktionieren dabei wie ein digitales Hamsterrad. Der User macht das Gerät an, schaut vielleicht zuerst auf die Status-Updates seiner »Freunde« bei Facebook. Nachdem er dort eine Weile verweilt,
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