Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Möglichkeit, zum graden Weg zurückzufinden.
Wer dagegen die Intuition verloren hat, sieht von Beginn an so viele Möglichkeiten vor sich, wohin er laufen könnte, dass es viel schwieriger ist, überhaupt nur den Mut zu finden, eine bestimmte Richtung einzuschlagen, ganz unabhängig davon, ob sie sich letztlich als die richtige herausstellen wird.
Ich will am Bild von der eigenen Mitte verdeutlichen, was gemeint ist: Menschen, die eine eigene Mitte spüren, haben damit auch einen Punkt, von dem ihre Intuition ausgehen kann. Der Verlust dieser Mitte, wie er mit dem ständigen Katastrophenmodus unserer Psyche einhergeht, sorgt für jene fehlende Wahrnehmung des eigenen Selbst, die verhindert, intuitiv einen Weg einzuschlagen.
Dieses intuitive Finden des Weges ist gerade auch im Verhältnis zu Kindern so wichtig. Aus der Intuition erwächst dem Kind gegenüber die Ruhe, die die kindliche Entwicklung günstig beeinflusst. Aus dieser Intuition heraus verhalte ich mich gegenüber dem Kind altersangemessen. Wenn ich
um meine eigene Mitte im Hamsterrad herumkreise, bin ich für das Kind als Gegenüber nicht fassbar; stehe ich unter permanentem Druck, überträgt sich dieser auf das Kind und belastet und überfordert es. Das Kind kann sich damit in entscheidenden Bereichen psychisch nicht entwickeln.
War früher alles besser?
Wer sich die Mühe macht, Entwicklungen aufzuzeigen und zu problematisieren, indem er sie mit früheren Zuständen vergleicht und die Veränderungen beschreibt, muss einen enormen Spagat hinlegen. Weder dürfen frühere Zeiten verklärt werden, noch soll einem blinden Fortschritts- und Zukunftsoptimismus gehuldigt werden. Es gilt zu akzeptieren, dass nicht jeder machbare Fortschritt, gerade auch im technischen Bereich, auch eine soziale Weiterentwicklung bedeutet. Andererseits sind aktuelle Entwicklungen anzuerkennen, und es gilt herauszufinden, wie der Mensch bei aller äußeren Weiterentwicklung innerlich trotzdem konstant bei sich selbst bleiben kann.
Denn innere Ruhe und psychische Ausgeglichenheit schaffen erst die Fähigkeit, positiv mit modernen Entwicklungen umzugehen. Dazu kann dann durchaus auch gehören, eine Entwicklung einmal nicht mitzumachen, sondern diese rechtzeitig als überfordernd und wenig zielführend zu erkennen.
Diese innere Ruhe scheint heute selbst jenen Menschen abhandengekommen, die von ihrem Umfeld als besonnene
Zeitgenossen wahrgenommen und bei Problemen gerne mal um Rat gefragt werden. Menschen wie der Lektor eines Buchverlags in folgendem Beispiel:
Karsten Meier ist Lektor eines mittelständischen Buchverlags. Tagein, tagaus hat er mit vielfältigen Aufgabenstellungen zu tun, unterschiedliche Buchprojekte zu betreuen und mit Autoren zu korrespondieren. Seine Arbeit ist häufig termingebunden. Manuskripte müssen zu bestimmten Terminen satzfertig sein, Gespräche geführt oder der Verlagsleitung berichtet werden.
Im Winter 2009/2010 stapeln sich mal wieder Manuskripte, die in ein paar Tagen fertig sein müssen. Es ist kurz vor dem Wochenende, Karsten Meier muss 20 Kilometer zu seinem Wohnort fahren. In den Medien wird schon seit Tagen über heftige Schneefälle spekuliert, jetzt spitzt sich das Szenario zu: »Daisy« kommt. Was im ersten Moment immer noch an Donald Duck denken lässt, war in diesem Winter die Bezeichnung für eine scheinbar unausweichliche Katastrophe. Schneemassen sollten Deutschland heimsuchen, warnten die Vorhersagen, im Zusammenspiel mit heftigen Stürmen, die dann noch für Schneeverwehungen sorgen würden. In Folge dieser Meldungen, die wie eine Lawine durch sämtliche On- und Offline-Medien rollten, kam es zu tumultartigen Szenen in Supermärkten, wo Menschen Hamsterkäufe tätigten und sich bevorrateten, als wenn es wochenlang nichts mehr geben würde.
Auch Karsten Meier vernahm die Vorhersagen. Via Internet. Im Radio. In den TV-Nachrichten. Je nach Kommentator war mit mehr oder weniger großen Problemen zu rechnen. Der Weltuntergang konnte nicht mehr weit entfernt sein. Dann
schaute er auf den Stapel halbfertiger Arbeit vor sich, und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. In ein paar Tagen musste definitiv einiges davon seinen Schreibtisch verlassen haben, sonst würde es zu Verzögerungen bei wichtigen Büchern kommen, die ihm angelastet werden konnten.
Er wusste genau, dass er im Normalfall die anstehenden Arbeiten gut schaffen würde, wenn er am Montag früh direkt wieder ans Werk ginge. Aber galt denn noch der Normalfall? Stand
Weitere Kostenlose Bücher