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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Winterhoff
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die Schnelllebigkeit unserer Zeit so groß, dass wir schon wieder gelassen werden könnten. Denn wir brauchen ja den neuesten Trend, die neueste Mode gar nicht zu kennen, weil beide morgen ohnehin überholt und veraltet sein werden. Im Grunde reicht es, sich zwischendurch mal in den Strom einzuklinken, das gerade Aktuelle zu registrieren und sich dann wieder in Ruhe anderen Dingen zuzuwenden.
    Schön wäre es jedenfalls, wenn es uns gelänge, die Dinge so zu sehen. Denn längst scheinen sie außer Kontrolle geraten. Der Wechsel ist überall, nichts bleibt lange so, wie es gerade noch war. Das bezieht sich nicht nur auf harmlose Moden in Kultur und Gesellschaft, die man notfalls noch ignorieren könnte, sondern es bezieht sich vor allem auf unser tägliches Leben, unseren Alltag.

    Ein Treffen mit Thomas-Kantor Georg Christoph Biller
    Wenn man nach Beispielen sucht, die Alternativen zu kritischen Tendenzen in der Gesellschaft bieten, ist es immer gut, den Schreibtisch zu verlassen und gute Gespräche zu führen. Eine solche Begegnung gab es für mich Ende 2010 mit Professor Georg Christoph Biller, der als 16. Thomas-Kantor nach Johann Sebastian Bach die Obhut über den Thomaner-Chor in Leipzig hat.
    Der ehrwürdige Charme des historischen Hauses im Leipziger Bach-Viertel bot einen würdigen Rahmen für dieses Gespräch, in dessen Verlauf klar wurde, was eine Tradition wie die der Thomaner uns für unsere heutigen Probleme und Aufgabenstellungen in der Gesellschaft zu sagen hat.
    Vielleicht muss man auch erst ein so außergewöhnliches Umfeld betrachten, um daraus wieder zu lernen, was uns im gewöhnlichen Alltag fehlt. Professor Biller verwies gleich zu Beginn darauf, dass für den Chor und seine Leitung spezifische Bedingungen gelten. Die Tatsache, dass es nicht selbstverständlich ist, sich mit den schwierigen Kompositionen von Bach auseinanderzusetzen und sie Jugendlichen zuzumuten, kann den Leiter eines Bachchores naturgemäß nicht interessieren. Obwohl die Außenwelt ihn in steigendem Maße mit Unverständnis konfrontiert, muss er sich die Fähigkeit zur Distanz erhalten und genau diese Haltung auch seinen Schülern vermitteln.
    Tradition bedeutet hier nicht das Festhalten an verkrusteten Strukturen und überkommenen Ideen, sondern es bedeutet die Erkenntnis, dass es bewahrenswerte Dinge gibt,
die nicht besser werden, wenn man an ihnen herumkritisiert und sie zwanghaft verändern möchte. »Wir brauchen uns nicht dauernd neu zu erfinden (...); es geht in der Substanz nach wie vor um dasselbe wie 1212« (dem Jahr der Gründung des Thomanerchors), sagt Biller, und dieser Satz erzeugte in mir einen gewissen Nachhall, denn genau diese Haltung überträgt sich auch auf das Verhalten Billers gegenüber seinen Schülern.
    Natürlich ist der Thomanerchor kein von der Welt abgeschlossener Ort. Die Schüler haben genauso die neuesten Handys wie ihre Altersgenossen, sie kennen sich mit dem Internet aus, mit der Jugendkultur ihrer Zeit. Trotzdem erleben sie in der Gemeinschaft des Chores etwas, was viele andere Jugendliche so kaum noch erleben.
    Stichworte wie Gemeinschaft, Übung, Leidenschaft, Begleitung stehen für dieses Etwas, das sich im Gespräch mit Georg Christoph Biller gut erspüren ließ. Der Kantor bildet für die Chorknaben, die mit Sicherheit durchaus nicht immer so brav sind, wie das Wort es suggeriert, ein Gegenüber, an dem sie sich orientieren können. Er vermittelt Leidenschaft, führt, wo geführt werden muss, und lockt damit auch nach und nach eine eigenständige Entwicklung der einzelnen Sänger hervor.
    Diese immense Leistung kann man jedoch nur erbringen, wenn man die Grenze um sich selbst ganz klar zu ziehen versteht. Biller kann das, er sieht aber auch, wie schwierig das im Allgemeinen geworden ist:
    »Die tägliche Arbeit mit den Jungs, die ist aufreibend. Wenn man da jedes kleine Bisschen, was die immer so veranstalten, an sich rankommen ließe, würde man das nicht schaffen. Ich
habe die Möglichkeit gar nicht, einfach auszusteigen, ich kann nicht nach zwei Jahren sagen, ich höre auf, weil es mir zuviel wird. Ich muss mir da sozusagen einen gewissen Panzer anlegen, sonst schaffe ich es nicht.«
    Der »Panzer« um sich selbst mag im ersten Moment etwas abweisend klingen, meint aber genau jene Distanz und innere Ruhe, um die es mir geht. Denn letztlich ist dieser Panzer keineswegs abweisend, sondern ermöglicht erst Nähe. Allerdings eine Nähe, die den Schüler als Gegenüber definiert und

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