Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
schnell zu erhalten. Geht es um eine ausführlichere Sache oder um die schriftliche Dokumentation eines Vorgangs, schreibt Uwe einen Brief, der zumeist auf dem Postwege, ab und zu vielleicht auch als Fax verschickt wird. Nach dem Absenden des Briefes geht Uwe in Ruhe zurück an die Arbeit, denn er weiß, dass mit einer Reaktion des Adressaten in der Regel nicht vor morgen oder übermorgen zu rechnen ist.
Wenn Uwe sich mit seinen Kollegen im Büro austauschen möchte, geht er zu ihnen ins Büro oder ruft sie ebenfalls an. Sein Arbeitsumfang ist in der Regel so bemessen, dass er die wichtigen Dinge in der normalen Arbeitszeit schafft. Überstunden kommen vor, sind aber nicht die Regel.
Freitags freut Uwe sich aufs Wochenende. Er wird Zeit haben, mit der Familie etwas zu unternehmen, Samstagabend schaut er die Sportschau, wie immer, ohne nachmittags bereits das Radio angeschaltet zu haben, denn er möchte die Ergebnisse der Fußballspiele vorher nicht wissen. Und wenn Oma Zeit hat, auf die Kinder aufzupassen, könnte er vielleicht sogar am Abend noch mit seiner Frau ins Kino gehen.
Für Kino und ähnliche Aktivitäten ist Uwe während der Woche oft zu müde, die Arbeit ist schließlich anstrengend. Dafür legt er dann, wenn die Kinder im Bett sind, die Beine hoch, ruht sich aus, mal vor dem Fernseher, mal mit einem
Buch. Der Stress des Tages fällt ab, auftanken für den kommenden Tag ist angesagt.
Im Großen und Ganzen dürfen wir uns diesen 80er-Jahre-Uwe als einen glücklichen Menschen vorstellen, der eine recht brauchbare »life-work-balance« besitzt, auch, wenn er dieses Wort noch gar nicht kennen kann.
Im Jahre 2010 hat sich Uwes Alltag maßgeblich geändert. Offiziell hat er immer noch eine 40-Stunden-Woche. Besser gesagt: Er hat sie mittlerweile wieder, nachdem zwischenzeitlich die Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden reduziert worden war, dann jedoch wieder erhöht wurde. Diese Regelarbeitszeit ist aber im Grunde kaum noch interessant, denn unter fünf Überstunden pro Woche geht es jetzt bei Uwe selten ab. Das Personal wurde reduziert, der Druck von oben erhöht, allein das sorgt schon dafür, dass sich Uwes Arbeitsatmosphäre nicht unbedingt verbessert hat.
Druck heißt auch: Aufgaben müssen möglichst schnell erledigt werden. Einen Postbrief verschickt Uwe nur noch selten, er telefoniert wesentlich häufiger als früher, und vor allem verschickt er jeden Tag unzählige eMails, genauso, wie in seinem elektronischen Postfach täglich eine große Zahl von Mails eintrifft. Wenn Uwe eine Mail verschickt hat, beginnt sofort das Warten auf Antwort. Der Empfänger müsste doch gleich reagieren, der Sachverhalt ist doch wichtig, denkt Uwe oft, und das Warten auf die Antwort trägt nicht gerade dazu bei, sich auf die nächsten Aufgaben zu konzentrieren.
Manchmal hat Uwe keine Gelegenheit, seinen Posteingang zu kontrollieren. Dann sitzt er in einer Besprechung mit seinem Chef, dem Abteilungsleiter und weiteren Kollegen. Die Frequenz dieser Sitzungen hat sich in den letzten Jahren stark
erhöht, alle stehen unter spürbarem Druck und müssen beweisen, dass sie und ihre Aufgaben wichtig genug sind.
Diese Sitzungen sind oft der einzige persönliche Kontakt, den Uwe zu bestimmten Kollegen hat. Ansonsten kommunizieren sie per Mail miteinander, auch wenn die Büros nur einige Schritte auseinanderliegen. Wenn ihn der Kollege zwei Schreibtische weiter vormittags per Mail fragt, ob sie zusammen in die Kantine zum Mittagessen gehen sollten, wundert er sich schon lange nicht mehr darüber, warum diese Frage nicht mündlich erfolgt.
Uwe freut sich am Freitag noch immer auf das Wochenende. Ganz so viel Zeit, um mit der Familie etwas zu unternehmen, hat er allerdings nicht mehr. Seit er von zu Hause aus Zugang zu seinem Mail-Account in der Firma hat, schaut er doch regelmäßig nach, ob dort nicht etwas Dringendes angekommen ist.
Ins Kino gehen sie auch noch ab und zu. Es ist allerdings nicht mehr so einfach, sich auf einen Film zu einigen, seit seine Frau im Vorfeld grundsätzlich sämtliche Filmkritiken im Internet sucht und liest. Die Vielzahl der dort abgegebenen Meinungen trägt selten dazu bei, sich unvoreingenommen auf den Film freuen und sich damit beschäftigen zu können.
Und unter der Woche? Der Fernseher, das Buch, das Sofa? Beine hochlegen? Der Wunsch ist da, die Ruhe dazu nur selten. Mal ruft das Fitness-Studio, dann müssen noch ein paar Akten fürs Büro erledigt werden, und wenn all das nicht der Fall sein
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