Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
um das Auto abzustellen. Das genaue Gegenteil von nervigem Suchen bei innerstädtischer Parkplatznot, eigentlich also paradiesisch. Und trotzdem stellte sich urplötzlich ein Gefühl der Überforderung ein. Die schiere Auswahl forderte ihn geradezu dazu auf, eine Entscheidung treffen zu müssen. Es war so viel Parkraum frei, dass er für einen langen Moment unentschlossen mit dem Auto auf dem Parkplatz stand, ohne einen freien Parkplatz ansteuern zu können. Als scannte sein Gehirn den ganzen Parkplatz, um anhand der zahllosen Möglichkeiten den bestmöglichen Platz herauszufinden. Keine Frage: Wäre auf dem ganzen Parkplatz nur eine einzige Bucht frei gewesen, hätte der Einparkvorgang weniger Zeit in Anspruch genommen. So jedoch fehlte Struktur, Orientierung, und das Gehirn war in einer anscheinend einfachen Situation überfordert.
So geht es uns heute häufig. Beschränkungen und Grenzen fallen, die Auswahlmöglichkeiten nehmen exponenziell zu, und wir haben immer mehr Schwierigkeiten, mit dieser Auswahl sinnvoll umzugehen. Sie hemmt uns in unserer Lebensführung, macht ein ständig schlechtes Gewissen, weil im Hintergrund immer noch so viele nicht getroffene Entscheidungen stehen, von denen wir zwar nicht wissen können, ob sie besser gewesen wären, die uns aber genau dieses Gefühl vermitteln.
Dazu kommt: Wer die Möglichkeit hat, viele Entscheidungen zu treffen, hat implizit auch stets die Möglichkeit, die »beste« Entscheidung zu treffen. Er ist scheinbar nicht mehr gezwungen, Kompromisse einzugehen und sich mit der zweitbesten Lösung zufriedenzugeben, sondern kann immer das Optimum erreichen.
Das jedoch ist nur scheinbar ein Potenzial; in Wirklichkeit wird es längst von uns erwartet, dass wir, so oft es geht, dieses Optimum herausholen. Sonst erscheinen wir unserem Umfeld als Versager, nicht ausreichend engagiert, oder man unterstellt uns Glücklosigkeit und automatisch Unzufriedenheit. Im schlimmsten Fall führt das zu einer Form von Getriebenheit, wie sie die deutsche Sängerin Annett Louisan in ihrem Lied »Das optimale Leben« beschreibt:
»Du suchst das optimale Leben/Wenn’s geht, über Tarif / Doch leider bleibt der Kick / Niemals ultimativ. / Bis gestern war’s das Größte / Heute wirkt es ordinär / Denn jetzt, wo du alles hast / Reicht’s nicht mehr.«
Der Protagonist des Songs ist immer auf der Suche nach dem »optimalen Leben«, doch jedes Mal, wenn er ein Ziel erreicht hat, stellt sich Sinnleere und die Sucht nach dem
nächsten Kick ein. Jedes Mal glaubt er, die beste Entscheidung getroffen zu haben, hat auch entsprechenden Erfolg, doch schon kurze Zeit später sagt ihm das kleine unsichtbare Teufelchen auf der Schulter, dass es das doch noch nicht gewesen sein kann, dass es wieder mal höchstens die zweitbeste Entscheidung war, mit der man keinesfalls zufrieden sein könne. »Einzig bleibt die Frage / Wann stellt sie sich ein – die Zufriedenheit / Wer weiß da Bescheid?«, heißt es an anderer Stelle im Text, und der Zuhörer weiß natürlich genau, dass der Fragende diese Zufriedenheit niemals erreichen wird.
Das gehört zum Dilemma: Wir wissen eigentlich um diese Umstände, wir sehen das oft genug in unserem Umfeld, geben Freunden und Bekannten entsprechende Tipps, ihr Leben zu ändern. Doch gelingt es uns selbst?
Schneller, höher, weiter – Nichts ist beständiger als die Unbeständigkeit
Neulich sah ich in einer Tageszeitung einen kleinen Bericht über den Mitarbeiter einer Firma, der ein Geschenk zum Firmenjubiläum bekommen hatte. Was an dieser banalen Meldung vor allem meine Aufmerksamkeit erregte, war eine Zahl. Der Mitarbeiter bekam sein Geschenk nämlich für 50 (!) Jahre Betriebszugehörigkeit. 50 Jahre. Schon Menschen, die heute um die 40 sind, können sich das gar nicht mehr vorstellen. Ein ganzes Berufsleben in derselben Firma, womöglich mit derselben Tätigkeit, tagein, tagaus.
Ob das in dieser extremen Form so erstrebenswert ist, mag manch einer bezweifeln; und Wechsel hat es in Karrieren, je höher sie gingen, auch früher schon gegeben. Heute allerdings gilt der Wechsel per se als erstrebenswertes Ziel im Berufsleben. Jede Station ist eigentlich nur ein Sprungbrett für die nächste. Am ersten Tag im neuen Job muss der Gedanke im Grunde schon den Auswahlmöglichkeiten für danach gelten, neben der Tätigkeit an sich gilt es, Verbindungen zu knüpfen, um schnell weiterzukommen, neue Herausforderungen anzunehmen, Flexibilität zu beweisen.
Eigentlich ist
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