Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
sollte, bleibt immer das ungute Gefühl, sich gerade unerlaubter Faulheit hinzugeben und dafür irgendwann irgendeine Konsequenz tragen zu müssen. Mit Auftanken ist da meist nicht viel, Uwe läuft und läuft und läuft – mit dem Unterschied zu dem Auto, für das dieser Spruch erfunden wurde,
dass er immer noch ein Mensch aus Fleisch, Blut und Psyche ist und eben keine Maschine.
Die Beschreibungen unserer Beispielperson zu unterschiedlichen Zeiten und Arbeitswelten sind idealtypisch, um den Unterschied deutlich herauszustellen. Wenn das eine oder andere für Sie nicht so sehr zutrifft, freuen Sie sich; wenn Sie alles noch viel schlimmer erleben, haben Sie bereits eine Ahnung davon, wohin all dies in letzter Konsequenz führen kann.
Der Uwe der 1980er Jahre hatte vielleicht das eine oder andere persönliche Problem, von dem wir nichts wissen und das uns hier auch nicht interessiert. Was er jedoch nicht hatte, und da unterscheidet er sich von seinem modernen Pendant, ist der »Terror der Möglichkeiten« 16 und die Dauerverbindung zu allen Außenposten seines Lebens, sei es der Abteilungsleiter, seien es »Freunde« in sozialen Netzwerken im Internet oder Ähnliches.
Wie soll der Uwe der Neuzeit noch seine Mitte finden, ganz bei sich selbst sein, wenn die Ränder seiner Persönlichkeit immer weiter zerfasern, die positive Abgrenzung zur Außenwelt immer schwieriger und unschärfer wird? Unser Uwe ist mit diesem Problem ja nicht allein, er steht stellvertretend für eine stetig steigende Zahl von Menschen, die selbstverloren durch ihren Alltag wandeln, scheinbar perfekt alle Anforderungen von außen bedienen und dann in den wenigen Momenten der Ruhe feststellen müssen, dass sie mit sich selbst nichts mehr anzufangen wissen.
Der Uwe des Jahres 2010 erlebt jenes Gefühl der Überforderung, das den Nährboden für das Umschalten der Psyche auf Katastrophe und damit den Einstieg ins Hamsterrad bedeutet. Es geht nicht unbedingt darum, dass Uwe mit einzelnen Anforderungen nicht klarkommen könnte, aber er ist dabei, die Möglichkeit zu verpassen, seine Situation zu reflektieren und auf das Überforderungsgefühl zu reagieren. Wenn er über seinen Alltag und den damit verbundenen Stress nachdenkt, kommt er zu dem Ergebnis, sich selbst in eine problematische Lebenssituation manövriert zu haben. Entsprechend fallen seine Reaktionsmuster aus, und es ist ihm quasi unmöglich, wirklich dauerhaft den Stresszustand zu ändern.
Das ginge erst, wenn er zu der Erkenntnis gelangen würde, dass es weniger seine persönliche Situation ist, die ihn in die Erschöpfung treibt, sondern es sich um ein übergeordnetes Massenphänomen handelt, dem aber auf der individuellen Ebene begegnet werden kann und muss.
Wir halten uns selbst nicht mehr aus!
Überlegen Sie doch mal, wann Sie das letzte Mal daheim gesessen haben und nichts gemacht haben. Ja, Sie haben richtig gelesen: nichts! Gar nicht so einfach, oder? Macht man nichts , wenn man eigentlich gerade nichts zu tun hat und die »Gelegenheit« nutzt, um mit dem internetfähigen Handy eMails zu checken? Macht man nichts , wenn man in der gleichen Situation zwanghaft anfängt zu überlegen, mit wem
man sich wozu verabreden könnte? Theater, Sport, Museum, Party, bloß raus aus der Bude?
Sie merken schon: Nichts ist schwieriger, als nichts zu tun. Man kennt das Phänomen, wenn jemand seine Arbeit verloren hat und plötzlich die sonst mit Arbeit gefüllte Zeit zur Verfügung hat. Ähnlich zu beobachten bei älteren Menschen, die nach einem langen Arbeitsleben Rentner und Pensionäre werden. Man hat schon von Fällen gehört, wo in dieser Zeit die ersten ernsthaften Ehekrisen auftreten, weil beide »plötzlich« viel Zeit haben. Jüngere Ehepaare kennen dieses Phänomen bisweilen auch aus Urlauben, die ja eigentlich der Entspannung dienen sollten. 17
Ein Alltagsbeispiel ist auch das junge Paar, das mir von dem Paradox eines »freien Wochenendes« erzählte.
Beide sind berufstätig, haben Kinder, Freunde gibt es auch, der Terminkalender ist gewöhnlich bis zum Platzen gefüllt, freie Stellen gibt es kaum. Auch die Wochenenden bieten meist keine echte Entspannung, sondern sind stringent durchgeplant. Das ist so zur Gewohnheit geworden, dass sich kürzlich eine eigentlich absurde Situation abspielte, die aber für die in diesem Buch beschriebenen Zusammenhänge als charakteristisch gelten kann.
Beide saßen zusammen am Frühstückstisch, es war ein Freitagmorgen. Gelegenheit, um
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