Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
seinen Lehrer ebenfalls als Gegenüber erkennen lässt.
Der Thomas-Kantor Biller bezieht diese innere Ruhe aus der Hingabe an die Musik und aus dem Bewusstsein, sich mit der Vermittlung dieser Tradition einer wichtigen Aufgabe zu stellen, die über ihn selbst hinausweisende Bedeutung hat.
Mit solcher Hingabe ist es möglich, sich von den negativen Einflüssen der Außenwelt zumindest teilweise abzukoppeln, auch, wenn im Alltag stets Stressfaktoren vorhanden sind, was ja auch Biller so bestätigt. Stress zu minimieren, wo es geht, ist immer ein lohnenswertes Ziel, niemand aber wird je ohne Stress leben. Also müssen Strategien her, um die Psyche vor sehr großem Stress zu schützen. Von Georg Christoph Biller kann man in dieser Hinsicht sicher eine ganze Menge lernen.
Das Schöne ist: Diese Haltung färbt ab. Unmittelbar nach dem Gespräch fühlte ich allein auf Grund der intensiven Diskussion über das Thema große Ruhe und Zentriertheit in mir. Was nur zeigt: Ruhe erzeugt Ruhe. Wenn die Psyche von außen nicht mit Negativnachrichten beschossen wird,
sondern ein ruhiges, unaufgeregtes Umfeld vorfindet, ist sie kaum in Gefahr, mit dem Alltagsstress nicht fertig zu werden.
Das eigentlich Wertvolle ist im Grunde die Intuition (Albert Einstein)
Schon Einstein wusste um den Wert der Intuition für wissenschaftliche Entdeckungen. Noch so angestrengtes Nachdenken und Vertrauen auf Vernunft und Verstand, so war er überzeugt, können immer nur im Nachgang der Intuition ihren Wert haben. Die richtige Richtung des Denkens dagegen steckt im Bauchgefühl.
Folgendes wird aus diesem Zitat klar: Intuition und Reflexion gehören zusammen. Das Fremdwörterbuch bestimmt zwar Intuition als »das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs« 13 . Das schließt aber selbstverständlich nicht aus, mit Überlegung an die Dinge heranzugehen. In unserem Zusammenhang ist eher etwas anderes entscheidend. In die richtige Richtung weisende Intuition setzt nämlich voraus, den Kopf frei zu haben. Nicht frei von Wissen und der Fähigkeit, den Verstand zu benutzen, sondern frei von negativen Belastungen, frei vom psychischen Überdruck, wie er in immer stärkerem Maße erzeugt wird.
Wenn der italienische Dichter Petrarca, der einst das Sonett erfand, sagt: »Wenn der Mensch zur Ruhe gekommen ist, dann wirkt er«, ist damit genau dieser Zustand der menschlichen Psyche angesprochen. Zur Ruhe kommen heißt nicht, nichts mehr zu tun.
Muße hat, wie wir später sehen werden, nichts mit Müßiggang zu tun. Zur Ruhe kommen heißt aber, eine Basis zu schaffen, von der aus Intuition wieder in die richtige Richtung wirken kann. Goethe, der gerade aus der Langsamkeit des Lebens die Energie schöpfte, ein Werk unvorstellbaren Umfangs zu schaffen, wusste: »Erst Empfindung, dann Gedanken / Erst ins Weite, dann zu Schranken«. Auch hier, genau wie bei Petrarca, kommt die Gewissheit zum Ausdruck, aus der Ruhe heraus produktiv werden zu können, um dann voller geistiger Kraft mit dem Verstand Probleme anzugehen.
Eine Rückkehr zur Intuition heißt somit vor allem eins: die Rückkehr zu uns selbst. Die Gefahr, sich selbst zu verlieren, ist natürlich nicht neu. Es hat sie zu allen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen gegeben. So schreibt Fernando Pessoa zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Wir leben zumeist außerhalb unser selbst, und das Leben ist eine fortwährende Ablenkung. Und doch zieht es uns zu uns selbst wie zu einem Mittelpunkt, um den wir gleich Planeten absurde, ferne Ellipsen beschreiben.« 14
Etwa 100 Jahre, nachdem Pessoa dies schrieb, haben die absurden Ellipsen zugenommen. Immer mehr Menschen leben nicht nur zumeist, sondern quasi ständig außerhalb ihrer selbst. Intuition wird in diesem Zustand fast unmöglich,
und das Fatale ist, dass dadurch gleichzeitig auch vernünftiges Handeln immer schwieriger wird.
Intuition, wie ich sie hier verstehe, ist kein diffuses Gefühl des »so-könnte-es-gehen«, sondern eine vollkommen abgesicherte Handlungsweise, weil sie aus tiefer innerer Ruhe heraus geschieht und jegliche äußere Beeinflussung dort lässt, wo sie hingehört: außerhalb von mir.
Warum ist Intuition, wie Einstein meinte, so wertvoll? Wer intuitiv zu handeln versteht, wird meist die richtige Richtung einschlagen. Auf dem Weg mag es Verzweigungen geben, Unsicherheit bisweilen, ob man besser hierhin oder dorthin abbiegt, doch gibt es immer eine
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