Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
nicht die Katastrophe kurz bevor? Wann würde er überhaupt wieder damit rechnen können, das Büro zu erreichen?
Also tat Karsten Meier das, was er eigentlich nicht tun wollte, weil es nicht notwendig war. Er packte alles zusammen, was er für die Manuskriptarbeit brauchte, und nahm es mit nach Hause. Vielleicht würde er das ja gar nicht brauchen, aber konnte man es wissen? Vielleicht drohten auch tagelanges Eingeschneitsein und kein Zugang zu den wichtigen Unterlagen. Sicher ist sicher, dachte Karsten Meier, sonst die Ruhe selbst, und handelte nach der Logik der Katastrophe.
Am Montagmorgen, an dem laut Wettervorhersage mindestens der Weltuntergang drohte, zeigte sich beim Blick nach draußen jahreszeitgemäßes winterliches Wetter, nicht mehr und nicht weniger. Die Straßen waren passierbar, auch die Haustür nicht zugeschneit, und Karsten Meier konnte die Freitag zusammengepackten Unterlagen wieder mit ins Büro nehmen, um sich dort den normalen Arbeitsabläufen zu widmen. Was blieb, war der Ärger, sich von der allgemeinen Verunsicherung angesteckt haben zu lassen.
Was ist hier passiert? Im Angesicht der ultimativ angekündigten Katastrophe gerät Karsten Meiers psychische Ausgeglichenheit
ins Wanken. Die Ankündigung starker Schneefälle hätte ihn normalerweise sicher auch aufhorchen lassen, die Frequenz und Dringlichkeit jedoch, mit der multimedial auf die scheinbare Unausweichlichkeit des Schlimmsten hingewiesen wurde, bewirkten in seiner Psyche etwas ganz anderes als sein normales Verstehen und Werten einer Nachricht, nämlich: Die Fähigkeit, Informationen nach ihrer Bedeutung für sich selbst zu selektieren und zu bewerten, war Meier kurzfristig abhandengekommen. Er hatte sich anstecken lassen von einer virtuell erzeugten Katastrophenstimmung, die mit der realen Bedrohungslage relativ wenig gemein hatte.
Ist dieses Beispiel auch ein (durchaus unspektakulärer) Einzelfall, so zeigt es doch, was uns allen immer häufiger passiert. Wir werden überrollt von einer kaum noch kanalisierten Welle von Informationen, die unserer Psyche vorgaukeln, ständig vor einer großen Gefahr zu stehen und keine Möglichkeit zur Entspannung zu haben.
Nun kann man sich zu Recht fragen, wann der Mensch zuletzt diese innere Ruhe hatte, von der ich hier spreche. Klagen über die Entfremdung des Menschen von sich selbst, über den Verlust einer wie auch immer gearteten Mitte, gehören spätestens seit den Industrialisierungsprozessen Ende des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil der Gesellschaftsanalysen. Der Philosoph Ernst Mach sprach vom »Verlust des Ich«:
»Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben, führen zu den absonderlichen pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der
psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können.« 15
Die Analyse ist also nicht neu, doch drängt sich heute mehr denn je der Eindruck auf, dass das Ich verloren sei. Es geht bei der heutigen Lage auch gar nicht darum, zu behaupten, es habe das Phänomen des Ich-Verlustes vorher nie gegeben. Wann immer es im menschlichen Leben zu Krisensituationen und übermäßigen Beanspruchungen kommt, ist die Gefahr, dass das Ich in den Hintergrund treten muss, latent vorhanden. Das können sowohl übergeordnete, alle Menschen betreffende Krisen wie Kriege oder Naturkatastrophen sein als auch persönliche Krisen wie Arbeitsplatzverlust, Tod eines nahestehenden Menschen, Krankheit und ähnlich existenziell bedrohliche Dinge.
Darum jedoch geht es hier nicht. Ich stelle fest, dass sich die Psyche wie in einem Dauerzustand eines Katastrophenmodus’ befindet, der nicht rational begründbar ist und sowohl junge als auch alte Menschen betrifft.
Zur Verdeutlichung will ich zwei typische Alltagssituationen eines ganz gewöhnlichen deutschen Arbeitnehmers umreißen und zuspitzen. Der Unterschied: Einmal befinden wir uns in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und einmal im Jahr 2010.
Nennen wir den 80er-Jahre-Arbeitnehmer Uwe. Uwe arbeitet als Büroangestellter in Vollzeit. Er hat also eine 40-Stunden-Woche, ist im Büro nicht mit Führungsaufgaben befasst, sondern als Sachbearbeiter für einen bestimmten, klar umrissenen Aufgabenbereich zuständig.
Wenn Uwe kommunizieren muss, greift er bisweilen zum Telefonhörer, um einen Sachverhalt direkt und schnell abzuklären bzw. eine Information
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