Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
klassische Waldspaziergang löst bei immer mehr Menschen Beklemmungen aus. Sie halten es kaum aus, alleine in der Stille, ohne Möglichkeit, das Hamsterrad in Bewegung zu halten. Sie merken, dass da in diesem einen Moment nichts ist außer ihnen selbst, dass sie mit sich klarkommen müssen. Und in diesem Moment kann das, was eigentlich das entspannende und schöne Erlebnis an so einem Spaziergang sein sollte, zum Horror werden. Der Mensch, der sich in dieser Situation befindet, merkt, dass er sich selbst nicht mehr aushält, er spürt regelrecht, was dieser Satz bedeutet. Daher meidet er tendenziell alle Entspannungssituationen, so paradox das im ersten Moment auch klingen mag. Das Beispiel des Paares mit dem freien Wochenende zeigt jedoch, wie das ganz praktisch in vielen Familien bereits abläuft.
Natürlich wird diese Erfahrung bei den meisten Menschen nicht so intensiv sein, dass wir von »Horror« sprechen müssten, wie ich das gerade getan habe. Aber in Ansätzen merken sehr viele heute den beschriebenen Effekt, dass in Phasen, in denen alles bereitet ist, damit Ruhe einkehren kann, das genaue Gegenteil eintritt: Innere Unruhe entsteht, das Gefühl, weitermachen zu müssen, wie von einer unsichtbaren
Kraft gesteuert, die zunehmend an Macht über uns gewinnt.
Das Internet, das ja mittlerweile für jede Lebenssituation etwas bereithält, enttäuscht uns auch hier nicht. Klicken Sie mal auf die Seite www.donothingfortwominutes.com und folgen Sie der Anweisung, die dort steht: nur zwei Minuten lang weder Maus noch Keyboard anzurühren. Sie werden merken: gar nicht so einfach. Da ist zum einen der Reiz, doch sofort mit dem Computer weiterzuarbeiten, zum anderen der Drang, zumindest sofort etwas ganz anderes zu machen. Einfach nur dazusitzen, die zwei Minuten abzuwarten und dann in Ruhe wieder die Hände an die Arbeitsgeräte zu nehmen, fällt uns furchtbar schwer.
Was man in diesem Moment merkt, ist einerseits, wie sehr wir uns bereits vom Computer bestimmen lassen, andererseits, dass es nicht von der zeitlichen Dauer abhängt, ob wir das Nichtstun aushalten, sondern dass dies generell für uns problematisch ist. Unsere Psyche sucht stets nach Beschäftigung, jede Ablenkung ist da willkommen, weil sie das Hamsterrad am Laufen hält. Es geht gar nicht darum, betätigungslos vor dem Computer sitzen zu können. Den gleichen Effekt kann man auch erzielen, wenn man Menschen sagt, sie könnten sich jetzt fünf Minuten ans offene Fenster stellen und Pause machen, nichts tun. Sehr vielen Leuten wird das enorm schwerfallen, ohne dass sie das als problematisch deuten. Heute wird in solchen Pausen zumeist das Handy gezückt, wobei das in vielen Fällen sicher nicht absolut notwendig ist (etwa für einen dringenden Anruf). Es dient zumeist nur der Ablenkung, und dahinter steckt das Verlangen der Psyche nach Dauerbeschäftigung.
Aber es ginge in die falsche Richtung, den Computer bzw. das Internet zu verteufeln. Denn diese Technik hat ja unbestreitbar positive Effekte. Der entscheidende Punkt ist vielmehr: Ich kann mit dem Computer nur dann klarkommen, wenn ich ihn bestimme und nicht er mich. Der Mensch im Hamsterrad jedoch lässt sich unbewusst zunehmend von außen bestimmen, egal, ob vom Computer oder von anderen Dingen. Jede Ablenkung ist willkommen, weil sie dem Hamsterrad neuen Schwung gibt. Auf diese Weise ist es dann auch nicht mehr so schlimm (weil es gar nicht bemerkt wird), dass die Arbeitserleichterung und Zeitersparnis durch die Maschine häufig nur eine gefühlte ist. Der Literaturagent Thomas Montasser hat das in seinem launigen Buch so auf den Punkt gebracht:
»(Es) ist mir auch aufgefallen, dass alles immer schneller und schneller gehen muss! Kurioserweise verbringen wir trotzdem immer mehr Zeit am Computer, um irgendetwas zu installieren, deinstallieren, synchronisieren, posten, updaten, downloaden oder sonstwie zu organisieren. Denn die Computerindustrie hat es geschafft, uns ein System zu implantieren, das immer neue Bedingungen stellt: Hast du dieses, brauchst du jenes, willst du dies, brauchst du erst einmal das.« 18
Es kann nicht schaden, sich beim Installieren und Updaten ab und zu mal zu fragen, ob wirklich in diesem Moment der User aus freien Stücken den Computer dazu bringt, diese Funktion auszufüllen, oder ob nicht vielmehr der Computer den User auf scheinbar geheimnisvolle Weise dazu »zwingt«,
diesen Vorgang just in diesem Moment auszuführen. Das ist natürlich Gedankenspielerei und nicht
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